MALMOE

Problembezirk mit Klassenbewusstsein

Vom Hauptbahnhof im Norden zu den Feldern Oberlaas im Süden, von der Löwygrube im Osten zum Wienerbergteich im Westen erstreckt sich der 10. Wiener Gemeindebezirk – Favoriten

Mit über 200.000 Einwohner*innen ist Favoriten der bevölkerungsreichste Bezirk Wiens, jeder zehnte Wienerin wohnt hier. Aber auch fern der nackten Zahlen zählt er zu den prominentesten Bezirken Wiens. Als historischer Bezugspunkt für die Geschichte der österreichischen Arbeiterinnenbewegung und beliebtes Motiv in Kunst und Kultur. Aber auch als verklärter Problembezirk, an dem sich Rassistinnen gerne abarbeiten. Sein Beiname – der „zehnte Hieb“ – geht zurück auf die Gründung des Bezirks im Jahr 1874, als er, mit einem Hieb quasi, vom Gemeindegebiet der Bezirke vier und fünf abgetrennt wurde. Benannt wurde er nach dem ehemaligen Schloss Favorita, jenem Gebäude im Herzen des vierten Bezirks, das heute das Theresianum beheimatet. Das letzte Mal massiv ausgedehnt wurden die Bezirksgrenzen im Jahr 1954, als die Dörfer Rothneusiedl, Ober- und Unterlaa eingegliedert wurden.

„Die ärmsten Sklaven, welche die Sonne bescheint“1Viktor Adler: Die Lage der Ziegelarbeiter

Bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts begann die Entwicklung Favoritens zum wichtigen Arbeiter*innen- und Industriebezirk. Neben dem Bau der Südbahn sorgten vor allem die Ziegelfabriken am Wienerberg dafür, dass sich eine große Zahl von Arbeiter*innen hier niederließ. Das Lehmvorkommen in dem Gebiet wurde seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts genutzt, um Ziegel herzustellen. Zeitweise beheimatete das Areal die größte Ziegelfabrik Europas. Während die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeiter*innen von Beginn an alles andere als rosig waren, verschlechterten sich diese mit dem Aufkommen des industrialisierten Kapitalismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch einmal dramatisch. Zu dieser Zeit wanderten viele Menschen aus Böhmen und Mähren ein, um sich in Wien als Handwerker, Köchinnen oder Ammen ihren spärlichen Lebensunterhalt zu verdienen. Viele davon fanden Anstellung in den Ziegelwerken am Wienerberg – die „Ziegelbehm“.

Untergebracht in den primitivsten Unterkünften, breiteten sich unter den Arbeiter*innen zunehmend Krankheiten und Seuchen aus, immer häufiger mussten auch ihre Kinder in den Fabriken schuften. Die unmenschlichen Lebensbedingungen, unter denen die Arbeiter*innen am Wienerberg ihr Dasein zu fristen hatten, veranlassten den Sozialdemokraten Viktor Adler 1888 zu seiner Reportage über „Die Lage der Ziegelarbeiter“. Darin beschreibt er die Ziegelarbeiter*innen als „die ärmsten Sklaven, welche die Sonne bescheint“. Vier Wochen nach Erscheinen des Artikels schaffte Adler es am Parteitag in Hainfeld, die organisierte Arbeiter*innenbewegung – bis dahin zersplittert und zerstritten – zu einen und die Sozialdemokratische Arbeiterpartei zu gründen. Für die Ziegelarbeiter*innen verbesserte sich die Situation ein wenig, nachdem es in den 1890er-Jahren erstmals zu großen Streiks gekommen war. Dennoch wies Favoriten um die Jahrhundertwende nicht nur die niedrigste Lebensqualität ganz Wiens auf, sondern auch eine dreimal so hohe Sterblichkeitsrate wie der erste Bezirk.

„Und der Februar kam nach Favoriten, Straßenbahnen blieben steh’n“2Gerhard Bronner: Das Favoriten-Lied

Nach Ende des Ersten Weltkrieges setzte sich die Entwicklung Favoritens zur Hochburg der Arbeiter*innenbewegung weiter fort. Neben zahlreichen Gewerkschaften und Genossenschaften wurde hier am 3. November 1918, also noch einige Tage vor der Ausrufung der Ersten Republik, auch die Kommunistische Partei Deutsch-Österreichs gegründet, die Vorgängerpartei der KPÖ. Die anschließenden Wahlen im Jahr 1919 konnte diese allerdings nicht für sich entscheiden, die Sozialdemokratische Arbeiterpartei gewann mit einer deutlichen Zweidrittelmehrheit. Die folgenden Jahre standen ganz im Zeichen des „Roten Wien“. So wurden in Favoriten etwa dutzende „Volkswohnhäuser“ mit über 9.500 Wohnungen errichtet. Die Stärke der Sozialdemokratie schlug sich auch im regen Zulauf zu den assoziierten Organisationen nieder. So zählte der Republikanische Schutzbund, der bewaffnete Wehrverband der Sozialdemokratie, im Bezirk zeitweise mehr als 3.000 Mitglieder.

Obwohl der 10. Bezirk mit dem Ahornhof die Kommandostelle des Republikanischen Schutzbundes beheimatete, kam es hier während der Februarkämpfe 1934 zu keinen größeren Gefechten. Knapp bevor der Hof am 14. Februar gestürmt wurde, konnten sich mit Otto Bauer und Julius Deutsch zwei der prominentesten Vertreter der sozialdemokratischen Bewegung vor der Verhaftung retten. Sie flohen beide in die Tschechoslowakei. Nach dem Anschluss Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland am 12. März 1938 waren im Bezirk zahlreiche Widerstandsgruppen aktiv. Im Betriebsbahnhof Favoriten der Wiener Verkehrsbetriebe sammelte eine antifaschistische Gruppe Geld für die Familien von politischen Gefangenen. Sieben Mitglieder wurden von den Nationalsozialisten verhaftet und ermordet. Ebenso in den Brown-Boveri-Werken, wo der Angestellte Leopold Weinfurter eine kommunistische Betriebszelle leitete, Mitgliedsbeiträge für die im Untergrund agierende KPÖ einhob und die Herstellung von Flugblättern organisierte. Auch in den Steyr-Daimler-Puch Werken sind – regelmäßigen Polizeikontrollen und einer großen Verhaftungswelle im Jahr 1941 zum Trotz – bis 1943 Widerstandsaktionen dokumentiert. Andererseits befand sich im 10. Bezirk auch das Wehrmachtsuntersuchungsgefängnis, die größte Militärhaftanstalt Wiens. Hier waren zwischen 1938 und 1945 tausende Soldaten, Offiziere und Zivilist*innen inhaftiert. Nach dem Sieg der Alliierten wurde Favoriten Teil der sowjetischen Besatzungszone.

„I haaß Kolaric, du haaßt Kolaric. Warum sogn’s zu dir Tschusch?“3Plakat zur Wanderausstellung „Am Anfang war der Kolaric“ gegen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus in Österreich.

Ab den 1960er-Jahren zählte Favoriten zu jenen Bezirken, die einen besonders hohen Zuzug von Arbeitsmigrant*innen aus der Türkei und Jugoslawien verzeichneten. Diese lebten oft unter prekären Umständen. Viele von ihnen fielen skrupellosen Hauseigentümer*innen zum Opfer, die ihnen heruntergekommene und überbelegte Wohnungen zu Wucherpreisen vermieteten. In Betrieben wie der alten Fischfabrik Warhan arbeiteten sie unter untragbaren Bedingungen. Eine zentrale Rolle spielte dabei der Wiener Südbahnhof, der sich bis 2009 auf dem Areal des heutigen Hauptbahnhofs befand. Dieser war nicht nur die erste Station der in Wien ankommenden Arbeitsmigrant*innen, er entwickelte sich auch zu einem Ort für regelmäßige Zusammenkünfte mit den Landsleuten. Als die Wiener Straßenmärkte immer mehr an Bedeutung verloren, übernahmen wiederum Migrant*innen die frei werdenden Verkaufsstände. Sie boten oft Waren an, die in Wien bis dahin nur schwer erhältlich waren und hofften, sich durch die neuerworbene Selbstständigkeit einer drohenden Rückführung in ihre Heimatländer zu entziehen. Einer dieser Märkte ist der Viktor-Adler-Markt, angesiedelt zwischen Reumannplatz und Keplerplatz.

„Favoriten ist der Ort, jeder zweite Tag ein Mord“4Penetrante Sorte: Deine Mutter

Das Gebiet um den Viktor-Adler-Markt, für viele das Herzstück des Bezirks, erzählt die Geschichte Favoritens wie kaum ein anderer Ort. Dort, wo die FPÖ traditionell ihre Wahlkämpfe abschließt, trifft man sich an gewöhnlichen Tagen zu Tee und Börek. Oder Bier und Blunzn am Stand nebenan. Wer heute durch Favoriten spaziert, wird aber vor allem die große Heterogenität erkennen, die den Bezirk prägt. Folgt man der 2017 eröffneten Verlängerung der U1 weiter stadtauswärts, finden sich riesige Gemeindebauten ebenso wie die Einfamilienhäuser einer wohlhabenden Mittelschicht. Die Ziegelfabriken sind längst Geschichte, stattdessen bietet der Wienerberg heute ein Erholungsgebiet inklusive Badeteich. Auf dem Areal der ehemaligen Ankerbrotfabrik stößt man auf Kunstgalerien und teure Lofts und mit dem Sonnwendviertel wird südlich des Hauptbahnhofs ein ganzes Grätzl für die gut verdienende Mittelschicht aus dem Boden gestampft.

Dennoch wird der Bezirk sein schlechtes Image kaum los und muss regelmäßig für rassistische Stimmungsmache herhalten. Beispiele gab es allein in den vergangenen Monaten zahlreiche. Als Faschist*innen im Sommer 2020 mehrere groß angelegte Angriffe auf Kurd*innen, Antifaschist*innen und das Ernst-Kirchweger-Haus (EKH) verübten, wurden die Angriffe von Politik und Medien über weite Strecken zu unpolitische Auseinandersetzung zwischen rivalisierenden und kriminellen Ausländer*innen stilisiert. Sofort forderten Politik und Medien ein hartes Durchgreifen der Exekutive, mehr Polizei und Videoüberwachung. Auch Finanzminister Gernot Blümel (ÖVP), aktuell Beschuldigter in einem Korruptionsprozess, nutzte die Gunst der Stunde, um gar die Schließung des EKH zu fordern. Selbst Parallelen zu den Vorstädten in Paris und anderen Großstädten wurden gezogen. Ein Vergleich, zu dem sich in der Boulevardpresse auch manch eine*r zu Beginn des Jahres bemüßigt fühlte, nachdem rund zwei Dutzend Jugendliche in der Silvesternacht randaliert hatten.

38 Prozent für FPÖ?

Fakt ist: Favoriten sticht in der Kriminalitätsstatistik nicht negativ hervor. Zwar werden hier Jahr für Jahr die meisten Straftaten verzeichnet, wird aber die Zahl der erstatteten Anzeigen in Relation zur Bevölkerungszahl gesetzt, relativiert sich dieses Bild. Dann liegt der Bezirk tatsächlich im Mittelfeld. Gleichzeitig schaffen es hier verübte Delikte überdurchschnittlich häufig in die mediale Berichterstattung. Das führt zu einer verzerrten Wahrnehmung in der Bevölkerung, die sich in ihrem Bezirk überdurchschnittlich unsicher fühlt. Aber auch abseits des subjektiven Sicherheitsgefühls gibt es zahlreiche Missstände. Mit nicht einmal 20.000 Euro liegt das durchschnittliche Nettoeinkommen nur knapp über der wienweiten Untergrenze, die Zahl der Arbeitslosen hingegen an der Obergrenze. Nirgendwo sonst gibt es so viele Menschen, deren höchste Schulbildung ein Pflichtschulabschluss ist. Und auch wenn sich die Lebensbedingungen seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert massiv verbessert haben, sterben die Einwohner*innen Favoritens im Schnitt nach wie vor fast sieben Jahre früher als etwa jene in Döbling.

All das ist das Ergebnis einer Entwicklung, die sich seit Langem in den europäischen Arbeiter*innenvierteln beobachten lässt. Die Folgen einer sich rasch verändernden Arbeitswelt, zunehmender Prekarität und die in immer kürzeren Intervallen auftretenden Krise der kapitalistischen Wirtschaftsordnung treffen die Bewohner*innen dieser Gegenden oft am härtesten. Gemeinsam mit einem subjektiven Gefühl der Unsicherheit und der Angst vor dem sozialen Abstieg begünstigt das die Wahlerfolge von rechtsextremen Parteien. Zusätzlich erleichtert wird ihnen ihr Geschäft durch eine Sozialdemokratie, die seit Jahrzehnten die neoliberale Sparpolitik und den Sozialabbau mitzuverantworten hat. Kein Zufall also, dass sich der 10. Bezirk für die FPÖ zu einer Hochburg entwickelt hat. Bevor sie in Folge des Ibiza-Skandals fast drei Viertel ihrer Wähler*innenstimmen verlor, wurde sie bei der Bezirksvertretungswahl 2015 mit über 38 Prozent beinahe stimmenstärkste Partei. Nun liegt es an der Linken, den Bewohner*innen der (ehemaligen) Arbeiter*innenbezirke Perspektiven fernab von Rassismus und Sozialdarwinismus aufzuzeigen. Nicht zuletzt, um eine Rückkehr der FPÖ zu alter Stärke zu verhindern.