Eine kritische Annäherung an das Konzept des „New East“
Wodka, Stalin und Pelmeni oder „Squatting Gopnik“, brutalistische Hochhausschluchten und „trashy“ Glamour. Auch 30 Jahre nach Zerfall der Sowjetunion prägen derlei Klischees den westlichen Blick auf die Kulturen des postsowjetischen Raums. Das Bild changiert zwischen Romantisierung und Dämonisierung, wobei der „monolithische Ostblock“ entweder als Sehnsuchtsort oder Moloch imaginiert wird.
Die Ursprünge der Vorstellung vom „wilden Osten“ liegen im 19. Jahrhundert. Durch Reiseberichte westlicher EthnografInnen manifestierte sich das Bild des Ostens als einer rückständigen, unkultivierten und fremdartigen Region im Kontrast zum zivilisierten und fortschrittlichen Westen. Vor allem im Kalten Krieg bedienten sich die ideologischen Lager solcher regionaler Zerrbilder zur Abgrenzung und Imagepflege. Bis heute prägt ein polarisierendes Koordinatensystem das Denken der Menschen und die Medienlandschaft – auf beiden Seiten.
Dabei konzentriert sich die Berichterstattung westlicher Medien über die Ex-Sowjetstaaten zumeist auf politische Themen. Gerne werden Ausschweifungen der Eliten dokumentiert, Menschenrechtsverletzungen angeklagt oder auch Gründe des Demokratiedefizits gesucht. Kunst, Kultur oder Musik schaffen es erst in die Feuilletons, wenn sie offen politisch sind, ansonsten geht es immer wieder um dieselben, zumeist russischen Klassiker. Für Populärkultur und damit die Lebenswelten der postsowjetischen Generation herrschte lange Zeit stabiles Desinteresse.
Die Euromaidan-Proteste 2013/14 in der Ukraine rückten den Krieg näher an die europäischen Grenzen, etwa zeitgleich verstärkte sich die Aufmerksamkeit westlicher Medien für die Kultur- und Kunstszene des postsowjetischen Raums.
Allen voran die Modeindustrie entdeckte den postsowjetischen Underground. Vice, BBC und Dazed begannen regelmäßig Kollektionen junger Streetwear-DesignerInnen zu featuren oder veröffentlichten Travel Guides zu den „unentdeckten“ Mode-Metropolen Litauens, Polens oder Russlands. Abwechselnd wurde Kyiv oder Tbilisi zum „New Berlin“ ernannt – alles noch so schön billig und sexy dort. Lifestylemedien erhoben die „Eastern Coolness“ zum neuen Trend, weshalb das anachronistische Narrativ vom Osten, an das sich westliche BetrachterInnen bereits gewöhnt hatten, Risse bekam. Ein Label musste her, mit dem sich die neuentdeckte Kreativität der postsowjetischen Region kennzeichnen ließ.
New East – die Wiedergeburt
Der Guardian machte dabei den ersten Schritt, als er im Juni 2014, zeitgleich zur russischen Krim-Annektion, das „New East Network“ lancierte. Damit weitete er seine Berichterstattung auf die „aus der Asche der UdSSR wiedergeboren Staaten“ aus. Dieses Verständnis vom neuen Osten fasst damit die doch sehr verschiedenen Nachfolgestaaten der UdSSR, wie Ukraine, Litauen oder Aserbaidschan, aber auch die ehemaligen Mitgliedstaaten des Warschauer Pakts unter eine einheitliche kulturräumliche Vorstellung.
Kurz darauf greift auch die Londoner Kulturstiftung Calvert 22 das Label „New East“ auf und widmet ihm ein ganzes Online-Magazin. Das Calvert Journal, welches in Kooperation mit dem Guardian herausgegeben wird, sieht seine Mission darin „die Kultur und Kreativität des New East zu fördern und zu feiern“, um „die Wahrnehmung Osteuropas, des Balkan, Russlands und Zentralasiens im Westen zu verändern“. Damit wollen sie „zur Entwicklung des internationalen Verständnisses“ beitragen, heißt es auf ihrer Website.
Koloniale Rhetorik
Im „New East“ ist das Politische nur soweit tragbar, solange es zum westlichen Lifestyle passt. Dass die ironische Inszenierung sozialistischer Symbole und postsowjetischer Klischees in den Arbeiten junger KünstlerInnen eine spielerische Auseinandersetzung mit ihrer Geschichte ist und Teil ihrer Identitätssuche, wird dabei gerne verkürzt dargestellt oder sogar ausgeblendet. Der Neuerfindung und dem Aushandlungsprozess kultureller Identitäten, die im postsowjetischen Raum stattfinden, wird in dem Potpourri des „New East“ keine Rechnung getragen. Was zählt, ist, dass der „alte Osten“ passé ist und der „neue Osten“ nun auch als Spielwiese für individualisierten Tourismus und kapriziösen Konsum zur Verfügung steht.
Anastasiia Fedorova, britische Kuratorin und Autorin des Calvert Journal, verteidigt das „New East“-Label. Sie sieht es als „Ausdruck für eine zeitgenössische visuelle Kultur“, die „kein Spiegelbild eines realen Raums“, sondern Abbild eines „vielschichtigen Mythos“ sein will.1www.calvertjournal.com/contributors/show/1984/anastasiia-fedorova Damit relativiert sie zwar den geografischen Raum, den Guardian und Calvert 22 unter den Begriff des „New East“ fassen. Das Problem, dass dadurch einem kulturell heterogenen Raum pauschal eine einheitliche zeitgenössische visuelle Kultur zugeschrieben wird, löst sie damit nicht auf.
Der Modedesigner Gosha Rubchinskiy findet in einem Interview mit dem Kulturmagazin 032c deutliche Worte: „Ich denke, [New East] ist ein Klischee, das von den Medien erfunden wurde. Sie können sich keinen Namen für die Energie einfallen lassen, die aus diesem Teil der Welt kommt. Diese neue Generation macht das Gleiche wie Jugendliche aus der ganzen Welt.“2www.032c.com/Gosha-Rubchinskiy-interview Es geht also gar nicht unbedingt darum, den kreativen Output des „New East“ zu feiern, sondern dem westlichen Publikum schmackhaft zu machen, dass sie dort genauso gut und viel konsumieren können wie in New York, Stockholm oder Barcelona. Außerdem seien die Raves in Kyiv (fast) genauso cool wie in London. Echt jetzt.
Im Essay „Ehemaliger Westen – Neuer Osten“, erschienen 2017 im Moscow Art Magazine, gehen die belarussischen KuratorenInnen der Minsker Y-Galerie, Olga Sosnovskaya und Alexey Borisenok, noch einen Schritt weiter. Sie bezeichnen das von Calvert 22 und Guardian in Umlauf gebrachte „New East“-Label als neokoloniale Rhetorik, da sie die vermeintliche Wiedergeburt des Ostens an die Deutungsmacht westlicher AkteurInnen gebunden sehen.
Sie sehen damit zwei Konsequenzen verbunden: Während sich beispielsweise mit den Maidan-Protesten zeigt, dass die postsowjetische Transitperiode in der Ukraine vorbei ist und es neue Identitäten gibt, die sich soziale Räume erobern, kommt die universalistische Vorstellung des „New East“ um die Ecke, darum bemüht die Überreste der sowjetischen Visualität zu vermarkten, indem es wieder auf die Vorstellung einer ursprünglichen Verbindung zwischen Mensch und Geografie verweist.
Damit werden heterogene Kulturräume nicht nur auf eine einzige kulturelle Identität (nämlich der des „New East“) eingedampft und dessen Kultur- und Kunstszene vermarktbar und konkurrenzfähig auf dem Weltmarkt gemacht. Auch die interne Auseinandersetzung lokaler AkteurInnen mit gesellschaftlichen Transformationsprozessen wird dadurch vorweggenommen. Dabei bräuchte es genau die, um eine eigene Sprache zu etablieren. Während also fragile lokale Kontexte (Lesebühnen, Clubs, Offene Räume u. v. m.) um gesellschaftliche Akzeptanz und mediale Selbstbestimmung ringen und lokale Unterstützung suchen, nimmt „New East“ eine popularisierende Verallgemeinerung vor, um einen „neuen Osten“ festzunageln, der sich selbst noch nicht zusammengezimmert hat. In einem Interview mit dem Post Pravda Magazin sagt der ukrainische Künstler und Kurator Serhiy Klymko über das Label „New East“: „Das ist nicht nur eine weitere Modeerscheinung, sondern das Ergebnis einer tieferen kolonialen Mentalität innerhalb der englischsprachigen, westlichen Medien. Aber wie bei jedem anderen Konzept, werden die Menschen davon irgendwann gelangweilt sein und das Interesse am sogenannten New East wird nachlassen.“3www.postpravdamagazine.com/what-is-new-in-new-east/
Wenn der Hype dann vorbei ist, öffnen sich vielleicht neue Möglichkeiten, um lokale Kulturprojekte, selbstverwaltete Galerien, gesellschaftskritische Ausstellungen, kleine Musiklabels und Partykollektive samt ihrer eigenen Narrative zu präsentieren und ihnen Raum zu lassen, eine eigene Sprache hervorzubringen, die ihrem kulturellen und regionalen Kontext mehr entspricht als „New East“. Dann fällt es leichter, die Besonderheiten und Vielfalt der Kunst- und Kulturszene im postsowjetischen Raum zu erkennen und zu verstehen, dass Gegenkultur tatsächlich auch außerhalb Westeuropas möglich ist und nicht alles immer mit Berlin verglichen werden muss, wenn es fabelhaft ist.