Sozialdarwinismus in Zeiten der Pandemie
In der grassierenden Naivität des Sommers 2020 plante ich mit einer Gruppe eine Klausurreise nach Berlin. Am Ende des Wochenendes, das dann letztlich doch in Klosterneuburg stattfand, wickelten wir die Übergabe der Räume mit dem Verantwortlichen ab. Er kam umgehend auf Corona zu sprechen. Er erzählte, dass der Lebensgefährte seiner Mutter im letzten Jahr verstorben wäre und diese – auch schon über 80 Jahre alt – ebenfalls ja jederzeit sterben könne. Vor allem betonte er seine starke Sorge von Verdienstausfällen, die der Lockdown mit sich bringen würde. Er erwähnte kein erwartbares Erbe oder erweckte den Eindruck, gegen die Betroffenen einen Groll zu hegen. Er stellte schlicht seine ökonomischen Interessen gegen ihr Leben.
Das sozialdarwinistische Primat vom Entzug des Essens bei ausbleibender Arbeitsleistung verlagert sich gerade zu einem unmittelbaren Sterbenlassen-Wollen. Was nach 1945, diskreditiert durch den Nationalsozialismus, aus dem Sagbarkeitsbereich verschwunden war, tritt bei den Protesten der Corona-Leugner*innen wieder offen zu Tage.
Der Sozialdarwinismus ist kein Geisteskind des Faschismus oder des Nationalsozialismus, er kam im 19. Jahrhundert im Windschatten des Manchester Kapitalismus in die Welt. Den frühen Sozialdarwinisten Herbert Spencer und Francis Galton galt die Konkurrenz am freien Markt der Kräfte als survival of the fittest. Der Vordenker des Sozialdarwinismus, der britische Ökonom Thomas Malthus, veröffentlichte 1798 in seinem Buch An Essay on the Principle of Population den Grundsatz, dass sich die Menschen im Verhältnis zu den landwirtschaftlichen Erträgen zu schnell vermehren würden. Die stetig drohende Überbevölkerung müsse durch einen Überlebenskampf mittels Hungersnöten und Krankheiten reguliert werden. Diese Gedanken waren noch in den 1980ern in der radikalen Linken anschlussfähig, das militante Ökonetzwerk Earth First propagierte „Malthus was right!“. Heute beziehen sich so genannte konservative Klima-Skeptiker*innen, die die menschengemachte Klimakatastrophe leugnen, positiv auf den Öko-Malthusianimus.
Während Spencer und Galton den Armen die staatlichen Zuwendungen nehmen wollten, um ihnen die letzte Überlebensgrundlage zu entziehen, riefen sie für die Oberschicht nach dem Staat. Dieser sollte die besitzende Klasse alimentieren, um sie somit zur Fortpflanzung zu animieren. Francis Galton, ein Cousin Charles Darwins, prägte den Begriff Eugenik. Er war der Erste, der lange vor Thilo Sarrazin das Horrorszenario von der Degeneration der Nation durch die falsche gesellschaftliche Fortpflanzung entwarf. Charles Darwin selbst, ähnlich wie Ernst Haeckel und Konrad Lorenz eine vermeintlich unverfängliche Figur des Biologieunterrichts, war ein früher Impfgegner. Er trat gegen die Pockenimpfung auf, da nun Tausende weiterleben würden, die auf Grund ihrer schwachen Konstitution zuvor gestorben wären.
Wie das Beispiel der Malthus-Rezeption zeigen soll, ziehen sich sozialdarwinistische Gedanken und die Forderung nach eugenischen Maßnahmen durch die gesamte Gesellschaft. Historisch war der Gedanke einer „positiven Eugenik“, also die bevölkerungspolitische Schaffung des „neuen Menschen“, in der politischen Linken populär. Am ersten internationalen Eugenikkongress, 1912 in London, sprach der Anarchist Pjotr Kropotkin. Der Gesundheitsstadtrat im Roten Wien, Julius Tandler, forderte in Aufsätzen und Vorträgen die „Vernichtung unwerten Lebens“. Im sozialdemokratischen Schweden wurden bis 1976 Menschen, häufig unter Anwendung von Zwangsmitteln, sterilisiert. Die gezielte und massenhafte Tötung von Menschen blieb aber ein Alleinstellungsmerkmal des Nationalsozialismus. Auf Grundlage des 1933 geschaffenen „Gesetz(es) zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ wurden bis 1945 etwa 400 000 Menschen zwangssterilisiert und etwa 250 000 Menschen ermordet.
Die sogenannten Corona-Proteste, auf denen sich Neo-Nazis mit all denen gemeinmachen, die sich an ihrer Präsenz nicht stören, wird von der antifaschistischen Linken teilweise als Querfrontstrategie missverstanden. Dabei handelt es sich im Kladderadatsch aus Sozialdarwinismus, Wirtschaftsliberalismus, Impfgegner*innenschaft und Verschwörungsfantasien aber vielmehr um den aktuellen Ausdruck einer verbreiteten Alltagsideologie, die, verinnerlicht von Teilen der Bevölkerung, nicht als Ideologie wahrgenommen wird. Das Bedürfnis nach dem „alten Leben“, nach Frisur, Shopping und Schanigarten, scheint wesentlich unmittelbarer als die Erfahrbarkeit des Todes.
Diese Schraube lässt sich jederzeit ins Extreme weiterdrehen. Etwa in der Forderung nach der persönlichen Freiheit, keinen Mund-Nasen-Schutz tragen zu müssen, die sich vor dem Hintergrund einer drohenden intensivmedizinischen Triage austobt. Es wird ein Zurück in den alten Normalzustand eingefordert, der zwar all seine Verunsicherungen und Zurückweisungen besaß, als Pflaster aber Konsum und Jahresurlaub kannte.
Joseph Wilhelm, Chef des deutschen Ökokonzerns Rapunzel, schrieb im firmeneigenen Newsletter Wochenpost: „Umso älter Menschen werden, umso weniger bedeutsam ist die Todesursache. Unser Leben ist nun mal endlich.“ Der Mund-Nasen-Schutz sei ein Maulkorb und die höchste Stufe der Demütigung, Demonstrant*innen betonen immer wieder darauf ein Immunsystem zu besitzen, als würde sie das vor anderen Menschen auszeichnen. An die Erkenntnisse über „die Leistungen“ der menschlichen Immunabwehr schließen sich leicht Forderungen nach dem Sterbenlassen der Alten und Schwachen an, deren Leben als nichts mehr wert gilt. Eine Demonstrantin formulierte, dass es „immer noch keine Übersterblichkeit, sondern eine Untersterblichkeit“ gibt.
Sozialdarwinismus ist der perfekte Kitt, der die konformistische Revolte mit Neo-Nazis verbindet. Dabei scheint alle das Gefühl zu einen, mundtot gemacht zu werden. Der Philosoph Ernst Bloch entwarf 1935 in seiner antifaschistischen Analyse Erbschaft dieser Zeit den Begriff der Ungleichzeitigkeit. Er beschreibt, wie sich Menschen als unzugänglich für rationale Argumente erweisen, weil sie die Herausforderungen der Moderne nicht konstruktiv bewältigen können, sondern sich in eine vermeintlich natürliche Ordnung zurücksehnen. Der Frust über die unerfüllten Versprechungen des guten Lebens, obwohl man sich doch alle Mühe gibt, richtet sich gegen die „Corona-Diktatur“. Man wähnt sich im Widerstand gegen die Zumutungen der Pandemie und erkennt nur den eigenen kindlich, narzisstisch erlebten Verlust an. Dieser verschafft sich in wütenden Äußerungen Luft darüber, dass „man das betreute Denken satthätte“ oder einfach „nicht mehr tolerant sein wolle“. Die Wahrnehmung der tatsächlichen eigenen Marginalisierung im Kapitalismus entlädt sich nicht im Aufbegehren gegen die Ideologie der Leistungsgesellschaft, sondern gegen all jene, die von dieser ausgeschlossen werden.