MALMOE

„Wenn ich Fußball spiele, fühle ich mich freier“

Die Fußballerin Helia Mirzaei erzählt ihre Geschichte

2015 kam Helia Mirzaei als Geflüchtete aus dem Iran nach Österreich. Darüber, was Fußball im Leben bedeutet, welche Kämpfe damit verbunden sind und was sie anderen Mädchen und Frauen mitgeben möchte, sprach sie mit der fairplay Initiative an einem sonnigen Vormittag im Auer-Welsbach-Park.

Wie bist du zum Fußball gekommen – oder anders gefragt: Was hat dich als Frau so lange davon abgehalten?

Ich bin 2015 aus dem Iran nach Österreich gekommen, und da war ich im Camp (Flüchtlingseinrichtung, Anm. d. Red.) im dritten Bezirk. Ich habe oft den Burschen im Garten beim Fußballspielen zugesehen und wollte auch mitmachen. Das wollte ich schon als Kind, durfte aber nicht. Fußball war einfach nicht der richtige Sport für Frauen im Iran. Dass ich einmal in einem Fußballverein spielen werde, das habe ich mir nie gedacht!

Ich habe Sport immer geliebt. Früher, als Kind im Iran, habe ich oft mit meinen Geschwistern in unserer Gasse trainiert. Am Anfang wollte von den anderen Mädchen niemand mitspielen. Sie haben gedacht, das ist nur für Männer. Aber das stimmt nicht! Ich habe die Mädels aus der Schule einfach mitgebracht auf den Fußballplatz. Ich habe behauptet, wir spielen Handball. Und dann habe ich gesagt: „Spielen wir doch mal kurz Fußball.“ Da haben sie alle gesagt: „Naja, ich kann das nicht.“ Ich habe gemeint: „Jede kann das, man muss sich konzentrieren, zuschauen und auch ein bisschen trainieren. Fertig.“ Dann haben sie „Okay“ gesagt. Aber irgendwann wollte keine mehr Fußball spielen, und ich war immer alleine.

Von den Burschen wollte auch niemand mit einem Mädchen spielen. Und dann habe ich irgendwann auch aufgehört. Ich habe dann Basketball gespielt. Das ist okay für Mädchen, wenn es in der Halle drinnen ist, also nicht öffentlich.

Aber auch hier wurde ich oft unfair behandelt. Ich war zum Beispiel bei einem Turnier, habe eine Goldmedaille gewonnen, aber sie haben sie mir nicht gegeben, weil ich als Afghanin im Iran keine Staatsbürgerschaft hatte.

Später habe ich mit Fitness angefangen, jeden zweiten Tag Aerobic. Und Schwimmen. Ich wollte fit bleiben, meinen Körper trainieren. Dann wollte ich Fahrradfahren, aber auch das dürfen Frauen nicht. Ich bin trotzdem Fahrrad und Motorrad gefahren, so gegen 14 Uhr. Da waren wenig Leute auf der Straße, weil es so heiß ist. Oder um Mitternacht.

Ich habe halt oft gedacht: „Okay, ich bin eine Frau. Ich kann nichts machen.“ Und ich bin fifty-fifty. Also eine Afghanin im Iran. Auch daran kann ich nichts ändern. Ich hatte oft das Gefühl, dass ich einfach kein normaler Mensch bin. Aber jetzt ist es viel, viel besser. Gott sei Dank.

Wie ist es dann in Österreich weitergegangen mit dem Fußball?

Als ich dann nach Österreich gekommen bin, habe ich im Camp den Ball von den Männern genommen und einfach angefangen zu spielen. Und jemand hat mir gesagt: „Gib mir den Ball! Schämst du dich nicht? Wieso nimmst du den Ball?“ Dann habe ich gesagt: „Wenn du den Ball willst, hol ihn dir!“ Ich wollte mir selbst Mut machen. Das hat ein Betreuer gesehen und mich gefragt, ob ich Fußball mag. Und dann hat er mir von einem Verein erzählt, und dass ich mich da anmelden kann. Ich habe gedacht, er macht nur Spaß. Aber dann bin ich ins Büro gegangen und habe gesagt, dass ich mich anmelden möchte. Das war bei Kicken Ohne Grenzen.

Bevor ich das erste Mal ins Fußballtraining gegangen bin, habe ich im Camp Werbung gemacht. „Komm mit“, habe ich gesagt, „wir haben einen Verein, wo wir spielen können, das ist doch besser als im Camp zu bleiben und ständig über unsere Situation nachzudenken. Wir brauchen Ablenkung.“ Die Mädels haben gesagt: „Naja, das ist für Männer.“ Frauen dürfen dies und das nicht. Als Kinder hören wir das immer. Auch als Erwachsene ist es schwer, da auszubrechen, vor allem für die erste Person. Die ist dann immer ein schlechter Mensch – so wie ich (lacht). Als ich zum Fußball gekommen bin, habe ich oft gehört, dass ich kein richtiges und gutes Mädchen bin, weil ich kein Kopftuch habe, Fußball spiele, auch mit Männern, und viel lache. Ich lache gerne! Wieso soll ich auch immer weinen?

Wie schaffst du es, diese Vorurteile zu überwinden, auch trotz all der Menschen um dich, die dagegen waren, dass du spielst?

Ich weiß, dass das, was ich mache, richtig ist, aber viele Leute können das noch nicht akzeptieren. Aber das ist mir wurscht. Ich kann nicht wegen anderer Leute nur die Sachen machen, die sie wollen. Ich muss so sein und das machen, was ich will.

Fußball ist für alle. Und man muss sich immer selber motivieren, Mut machen. Wenn alle immer sagen, wir dürfen nicht, dann können wir niemals gute Erfahrungen sammeln im Leben und weiterkommen, weiter lernen. Dann bleiben wir immer an einem Punkt stehen.

Und konntest du die anderen Frauen motivieren?

Also beim Training war ich mit ein paar Mädels aus unserem Camp. Eine meiner Freundinnen hasste Fußball. Sie mag andere Sportarten. Aber ich habe gesagt: „Komm doch einfach mal mit, und wenn du keinen Spaß hast, dann kommst du halt nicht wieder.“

Und dann war sie beim ersten Training und hat danach gefragt: „Na Helia, kommst du nächste Woche wieder?“ Und ich: „Ja! Du auch?“ Sie hat „Ja“ gesagt, und so war das.

Am Anfang waren wir bei Kicken Ohne Grenzen mal mehr, mal weniger Spielerinnen. In der Halle habe ich beim Training das erste Mal mein Kopftuch weggelassen. Ich habe dann immer eine Haube gehabt. Aber die kam dann auch einfach runter. Beim ersten Mal war ich schockiert, ich habe mich geschämt. Alle anderen haben Kopftuch getragen. Mein bester Freund war auch beim Training und ich sagte: „Ah, er hat jetzt meine Haare gesehen. Was soll ich tun?“ Und meine Freundin hat gesagt: „Ach egal, lass das.“ Aber selbst wollte sie das Kopftuch nicht ablegen, sie hat gemeint, sie kann das nicht, weil wenn das wer ihren Eltern erzählt, bekommt sie Schwierigkeiten. Meine Eltern waren ja nicht da. Das war sehr schwer, dieser Tag!

Nach dem Training habe ich wieder das Kopftuch aufgehabt. Aber ich habe das Gefühl, ohne Kopftuch kann man besser laufen. Ja, und bis jetzt spiele ich Fußball. So ist das. Manchmal kann ich auch nicht spielen wegen meines Fußes, oder meines Kindes – ich bin ja Alleinerzieherin. Meine Eltern, meine Familie und meine FreundInnen sind nicht bei mir, ich habe niemanden. Ich habe hier aber auch neue Leute gefunden. Und den Fußballverein!

Was bedeutet der Sport für dich, hat er dir geholfen?

Am Anfang war ich deprimiert, wollte nicht zum Deutschkurs, keine Leute treffen. Für mich hat Fußball viel Bedeutung und hat mir geholfen. Wieso? Wenn ich zum Training gehe, bleiben alle Schwierigkeiten vor der Tür und ich gehe rein. Und wenn das Training vorbei ist, nehme ich die Schwierigkeiten nicht mehr mit. Wenn ich auf dem Fußballplatz bin, denke ich an die positiven Sachen, konzentriere mich darauf, wie ich Lösungen finde. Sport macht Mut – du kannst das, du schaffst das, du machst das super! Es ist vielleicht manchmal hochnäsig, wenn man das sagt, aber ich sage oft zu mir: „Helia, du bist die Beste! Für dich! Egal was du für die anderen bist, für dich bist du die Beste.“ Ich sage immer zu den anderen Mädels: „Wenn ich nicht für mein eigenes Leben kämpfe, dann kann das auch niemand anderes tun. Wenn ich mich nicht selbst akzeptiere und respektiere, nicht nett zu mir selbst bin, können es die anderen auch nicht.“ Im Iran können die Frauen nicht einfach ihre Meinung sagen. Ich bin das jüngste Kind in meiner Familie, innerhalb der Familie konnte ich viel tun, meine Eltern waren Moslems, aber nicht sehr streng. Aber insgesamt war trotzdem wenig möglich. Hier in Österreich ist es besser. Ich kann meine Meinung sagen, kann Sport machen, damit ich mich besser fühle. Wenn ich Fußball spiele, fühle ich mich freier. Damit mein Kopf nicht explodiert. Ich kann besser denken, mich konzentrieren.

Wenn du Schwierigkeiten hast, dann kann dir der Sport also helfen, diese zu überwinden?

Vor zwei Jahren, 2018 glaube ich, habe ich viel Sport gemacht! Eine Woche hat nur sieben Tage, aber ich habe oft acht Mal Fußball gespielt. Ich habe Kinder trainiert, bei Dynama Donau gespielt, bei Kicken ohne Grenzen, beim Homeless World Cup, am Abend habe ich dann noch mit Freundinnen im Käfig gespielt. Ich bin vier Stunden am Tag Fahrrad gefahren, Donnerstag war ich beim Schwimmen, und jede Nacht war ich spazieren. Am Vormittag hatte ich Schule, am Nachmittag war ich arbeiten. Nach dem Aufwachen bin ich im Garten gelaufen. Dann bin ich zurückgekommen, habe geduscht, mich für die Schule vorbereitet. Das war jeden Tag so und ich hatte zu wenig Zeit zum Essen und zum Schlafen. Dazwischen war ich auch noch in der Bibliothek, da habe ich manchmal genascht. So war das das ganze Jahr lang. Ich habe das gebraucht, und nur so habe ich mich besser gefühlt.

Zu dieser Zeit hatte ich viele Schwierigkeiten mit meiner Familie, meinen Freunden und den Kollegen aus Afghanistan und dem Iran. Ich musste immer erklären, warum ich keine Staatsbürgerschaft habe. Manche sagen: „Dein Vater ist aus Afghanistan, dein Blut ist afghanisch. Wieso redest du persisch?“ Aber was soll ich sagen? Ich kenne Afghanistan nicht, war noch nie dort. Die einen sagen, du bist Afghane, die anderen, du bist Iraner, oder du gehörst nirgends dazu. Solcher Blödsinn, ich hasse das. Die Leute haben keine Ruhe gegeben, ich habe ihnen gesagt, dass ich nicht zulasse, dass sie mich runtermachen und verletzen, dass es mir egal ist. Ich liebe beide Länder und ich hasse sie. Ich kann nicht sagen, was besser ist, und ich bin beides gleichzeitig.

Das war bei den Asylbehörden wahrscheinlich auch ein Problem ohne Pass?

Deswegen bin ich jetzt staatenlos. Das steht auf meinem Ausweis. Bei meinem Asyl-Interview habe ich gesagt, dass ich aus dem Iran komme, aber mein Vater aus Afghanistan ist. Sie haben nach meinem Pass gefragt, aber ich habe keinen. Der Übersetzer hat mich gefragt, warum ich nicht Dari spreche, wenn mein Vater aus Afghanistan ist. Woher soll ich das wissen? Wir haben halt Persisch gesprochen, zu Hause und in der Schule. Wir haben ja auch im Iran gelebt. Der Übersetzer hat dann gesagt, dass ich, wenn ich einen positiven Bescheid bekommen möchte, Dari sprechen muss. Dann habe ich eben ein bisschen Dari gelernt. Beim nächsten Mal wurde mir gesagt, dass der Übersetzer schlecht war. Und dass es nicht wichtig ist, was ich spreche, sondern welche Probleme ich hatte und weshalb ich hierher gekommen bin.

Welche Erfahrungen hast du in Österreich im Sport gemacht? War Rassismus ein Thema?

Es gibt in jedem Land gute und schlechte Leute. Beim Fußball habe ich noch nie Rassismus erlebt. Ich habe viele Leute getroffen, dir mir geholfen haben. Aber ich hatte auch immer Schwierigkeiten. Ich habe keine Staatsbürgerschaft, weil mein Vater Afghane ist und ich im Iran aufgewachsen bin. In der Schule im Iran habe ich immer gehört, dass ich keine Rechte habe, ich nicht richtig arbeiten kann, Medaillen wurden mir aberkannt. Sie waren rassistisch. Wer zu welcher Gruppe gehört, ist mir nicht wichtig. Es gibt viele Gruppen in Afghanistan, die miteinander streiten, aber mein Vater hatte viele Freunde gehabt und gute Kontakte mit allen. Mein Vater hat auch immer gesagt: Mensch ist Mensch. Es ist wurscht, aus welchem Land du kommst oder aus welcher Gruppe du bist oder welche Religion du hast. Deswegen habe ich, bis ich 2015 nach Österreich bekommen bin, gar nie darüber nachgedacht, welche Gruppen es in Afghanistan gibt und welche Sprachen gesprochen werden.

Einer meiner Freunde hat mir erzählt, welche Gruppen und Sprachen es gibt. Darüber habe ich hier mehr gehört als daheim. Meine jetztigen Freunde sind aus verschiedenen Ländern: Syrien, Irak, Afghanistan, Iran, Pakistan, Somali oder Nigeria. Und Österreich. Die Leute aus Afghanistan waren aus verschiedenen Gruppen und haben immer wieder gefragt, warum ich Kontakt mit dieser oder jener Person habe. Aber wieso nicht? Wenn sie nett sind?

Am Anfang hatte ich in Österreich ganz wenig Kontakt zu persischen Leuten. Ich vermied das, weil ich mich auf das Lernen der Sprache konzentrieren wollte. Und ich wollte nicht immer erzählen, wieso und warum, und über die Vergangenheit sprechen. Die meisten, die aus unseren Ländern kommen, sind in einer ähnlichen Situation wie ich – nur sind die meisten mit ihrer Familie da. Da ist es anders. Manche Eltern lassen die Mädchen nicht in Ruhe und verbieten ihnen alles, oder der Bruder. Andere Familien reden hinter ihren Rücken schlecht. Das passiert leider oft.

Dass ich jetzt Fußball spiele, habe ich meinen Eltern von mir aus am Telefon erzählt. Sie haben gesagt: „Oha, schon wieder Fußball! Wieso kein anderer Sport? Du denkst noch immer an Fußball. War es nicht genug, dass du bei uns alle Lampen, Fenster und den Fernseher zerbrochen hast mit dem Ball?“ Ich habe gesagt: „Nein, es ist nicht genug, ihr seid nicht da und könnt es nicht verhindern. Ich mache das!“

Wie haben die Eltern reagiert?

Ich habe es lachend erzählt. Mein Vater ist nett. Mein Onkel und meine Tante, die sind sehr streng. Obwohl mein Vater älter ist als sie. Er hat so ein nettes, weiches Herz. Er kann uns sehr gut verstehen. Manchmal bekommt man schon Stress, wir diskutieren über vieles. Ich kann ihm sagen, was ich denke.

Auch wegen meines Kopftuchs habe ich Schwierigkeiten bekommen. Meine Familie hat gesagt: „Ja, jetzt ist Helia in Europa, natürlich trägt sie kein Kopftuch mehr“, und dies und das. Mein Vater hat mir gesagt, dass ich es tragen soll, aber ich habe nein gesagt. Mir ist es wurscht, was andere Leute sagen, aber bei meinem Vater ist es mir nicht egal. Es ist mir wichtig, was er denkt. Und ich bin ehrlich. Wenn er hinter mir steht, und ich ihm alles erzähle, dann kann niemand irgendwas über mich sagen.

Wie schwer ist es für Menschen, die aus anderen Ländern kommen, in Österreich anzukommen?

Es ist sehr schwer, weil es ganz anders ist. Afghanistan ist da ein bisschen besser, aber im Iran ist es so schwer. Es ist eine islamische Republik. Frauen und Männer dürfen nicht gemeinsam sein. Frauen dürfen nicht ins Stadion im Iran – in Afghanistan schon. Die Frauen in Afghanistan müssen kein Kopftuch tragen, im Iran schon.

Man denkt, Frauen sollen einfach nur Kinder bekommen. Und nicht so viel draußen sein. Aber hier ist es eben anders. Man fühlt sich besser als Frau und kann mehr machen. Man fühlt sich gleicher. Wenn man im Iran so breitbeinig dasteht wie du, ist das schlecht. Frauen müssen immer die Beine zusammen haben. Aber hier ist das ganz wurscht.

Und Make-up! Hier ist es auch meist für Frauen, aber ich denke, auch Männer können es benutzen. Im Iran ist Make-up sehr wichtig und Frauen benutzen es sehr viel. Hier gibt es auch Frauen mit wenig oder keinem Make-up. Im Iran sind fast alle Frauen extrem geschminkt, es ist eine wichtige Sache. Ich verwende auch Make-up. Aber nicht so viel! Meine Tante fragt dann: „Warum schminkst du dich nicht mehr? Du bist ein Mädchen! Was soll das?“ Sie denken, ich kann das nicht. Aber ich will das nicht! Ich will mich auch noch sehen können und nicht nur das Make-up (lacht).

Gibt es etwas, was du anderen Mädchen auf ihren Weg mitgeben willst?

Ich erzähle meine Geschichte immer anderen Mädels, damit sie es vielleicht leichter haben und Probleme früher sehen und ansprechen. Und eine Lösung für sich finden. Sie müssen das für sich ausprobieren, wo sie denken, dass es gut für sie ist.

Sie sollen stark bleiben und auf sich vertrauen. Ja, sie können alles machen, was sie wollen. Nur müssen sie irgendwo, irgendwann beginnen. Wenn nicht jetzt, dann wird es später schwieriger. Ich hoffe, dass alle Mädels, egal aus welchem Land oder welcher Kultur, in Zukunft das sind, was sie sich gewünscht haben. Und sie dürfen nicht vergessen zu lachen. Lachen ist wichtig im Leben. Aber auch Weinen! Das ist ein normales Gefühl.