In Incels: Geschichte, Sprache und Ideologie eines Online-Kults führt Journalistin Veronika Kracher in die gefährliche, misogyne Subkultur ein
Incels, da war doch was. Ist das nicht dieser maskulinistische Todeskult der digitalen Postmoderne, das grausames Ächzen der Echokammern und das Elend männlicher Vergeschlechtlichung? Bis vor ein paar Jahren kaum jemand außerhalb einiger Nischen des Internets ein Begriff, war es vor allem eine Reihe von Terrorangriffen, mit denen die Incel-Webkultur die Aufmerksamkeit auf sich zog. Der Name ist ein Kofferwort, das die Worte „involuntary“ und „celibat“, also unfreiwilliger Zölibat, vereint. Wer einwenden mag, dass ein sexloses Leben doch kein Grund für Nihilismus und terroristische Militanz sei, für die ist Veronika Krachers Buch Incels: Geschichte, Sprache und Ideologie eines Online-Kults gemacht. Die Journalistin arbeitet seit Jahren zu maskulinistischen Webkulturen und ist in Deutschland eine der ersten Ansprechpartnerinnen zum Thema Incels.
Wie die meisten sektenartigen Zusammenhänge bilden Incels ein soziales Netz, das durch gemeinsame Orte, Sprache und andere subkulturelle Codes ein exklusives Miteinander konstruiert. Der erste Teil des Buches ist diesem Community Building gewidmet. Kracher führt durch Onlineforen wie Reddit, Kohlchan oder die Nachfolger des berüchtigten 4chan – Knotenpunkte der Incelkultur. Anhand von ausführlichen Textanalysen filtert sie die ideologischen Grundlagen der Incelkultur aus deren sprachlichen Codes, die am Ende des Buches auch noch in einem Wörterbuch erklärt werden. Was ein „Chad“ ist, wissen Meme-Affine vielleicht noch, spätestens bei „Foid“ oder „Becky“ herrscht aber Unverständnis. Als ideologische Grundlagen macht Kracher eine
„Kombination aus Opferkomplexen, Anspruchsdenken und Antifeminismus“ aus. Incels sind also Männer, die sich von einer jüdischen Weltverschwörung und deren „Mind Control Devices“ (vor allem Feminismus) um ihr qua Pimmel-DNA angeborenes Recht auf sexuelle Bedürfnisbefriedigung gebracht sehen.
Weitere Teile des Buches widmen sich Analyse und Kritik dieser Ideologie. Die oben angesprochene Melange aus Anspruchsdenken, Opferkomplexen und Antifeminismus macht Kracher als wichtigstes Moment zur Differenzierung von Incels innerhalb der bunten Blase neurechter Onlinekulturen aus. Dies ist nicht im Sinne eines Alleinstellungsmerkmals zu verstehen. Wie so häufig ist es die Mischung, die es ausmacht – und Mitgliedschaften im Incel- oder Trutherkollektiv schließen sich auch nicht aus, sondern begünstigen sich eher.
Ein wichtiger Bezugspunkt Krachers in der Deutung dieser Ideologie ist die Theorietradition kritischer Männlichkeit. Denn auch wenn Vokabular und Habitus der Incels sehr hip und zeitgeisty sind, die kollektiven psychischen Charakteristika sind so last season. Eines der Konzepte, das für Kracher von großer Bedeutung ist: der vom Kulturtheoretiker Klaus Theweleit entwickelte Fragmentkörper. Diesen Sozialtypus beschrieb Theweleit anhand literarischer Schriften von Freikorpssoldaten der Weimarer Republik: ein innerlich ständig vom Zerfall bedrohter Körper, der paranoid-projektiv den eigenen Zerfall am externalisierten Feindbild bekämpft. Diese Referenz zur Erklärung von Incels verweist auf eine historische Konstante, die von Theweleit wie Kracher in der männlichen Sozialisation ausgemacht wird. Die grundlegend widersprüchliche Erfahrung des männlichen Subjekts, auf der einen Seite sich als autonom denken zu müssen, zeitgleich aber real ständig auf Abhängigkeiten verwiesen zu sein, bildet, wie Kracher ausführt, die Grundlage misogyner, rassistischer und antisemitischer Haltungen. Incels, so Krachers These, sind dabei nur die radikale Zuspitzung allgemein männlicher Verhältnisse.
Erwartungsgemäß wird eine Feststellung wie die Krachers, dass Incels eben keine „verrrückten ‚Einzeltäter‘, sondern von dem normalen Durchschnittsmann gar nicht so weit entfernt“ sind, auf Ablehnung und Widerstand von Männern stoßen. Dabei ist es gerade der psychoanalytisch-materialistische Ansatz Krachers, der hilft, Incels in die patriarchal-kapitalistische Gesellschaft einzuordnen und so Ausblicke auf gesamtgesellschaftliche Praxismöglichkeiten zu gewinnen, statt bei einem populärtheoretischen Begriff von „toxischer Männlichkeit“ stehenzubleiben. Denn dieser ist zu häufig nur ein Werkzeug im binnenmännlichen Kampf um „bessere“ und „schlechtere“ Männer.
Was dabei helfen mag, die im Buch formulierte Kritik anzunehmen, ist der Ton Krachers. Ohne auf Details, Fokus oder analytische Objektivität zu verzichten, bricht er mit der distanzierten Trockenheit mit der sonst wissenschaftliche Objektivität evoziert werden soll. So entfällt die Distanz, in die ein Sachbuch die Lesenden sonst gegenüber seinem Objekt versetzt, zugunsten eines Blicks der Verhältnisse auf ihre Veränderung hin überprüft und empathisch-affektive Praxen stärkt, die sich dem eiskalten Blick der Ideologiekritik verwehrt.
Incels ist ein Buch, das Feminist:innen, Sozial- und
Geschlechtswissenschaftler:innen hilft, Theorien kennenzulernen und zu vertiefen, gleichzeitig aber auch als Agitationsbuch für den Bruder oder die Eltern unter dem Weihnachtsbaum seine Wirkung nicht verfehlt. Denn nicht zuletzt ist es, im besten Sinne, ein politisches Buch, getragen von der Erkenntnis, dass Patriarchat und Kapitalismus weder gottgegebene Verhältnisse noch unveränderlich sind – und das dringend zu Veränderung beitragen möchte. Wem dies auch ein Anliegen ist, dem sei es ans Herz gelegt.
Veronika Kracher (2020): Incels: Geschichte, Sprache und Ideologie eines Online-Kults. Ventil Verlag, Mainz. 16 Euro