Gestörtes Störendes #17
Nun muss über Corona geschrieben werden. Und geredet. Und nachgedacht. Der Prozess, den wir gerade durchlaufen, folgt einer erbarmungslosen Dynamik. Das Virus zwingt uns, zentrale menschliche Werte wie Kooperation, Empathie, Verallgemeinerbarkeit des jeweiligen Standpunktes (damit kognitiv-emotionale Einnahme der Position einer anderen Person) stärker zur Kenntnis zu nehmen und sie auch als Problem wahrzunehmen, nämlich dort, wo sie durch die funktionsgetränkten kapitalistischen Strukturen verstümmelt, verdreht, entfremdet oder unterdrückt werden. Die Notwendigkeit dieser Werte springt jedenfalls ins Auge. Wie auch ihre widersprüchliche reale Gestalt.
Unser System des seelen- und herzlosen Funktionierens um jeden Preis, was Selbst- und Fremdausbeutung, Fassadenhaftigkeit sich selbst und anderen gegenüber, Leugnung eigener und Absprechen fremder Bedürfnisse und Notlagen, Selbstdisziplin bis zum bloß funktionalen Verhältnis zu sich selbst als sinnvolle Strategien des Zusammenlebens (oder besser: Nebeneinanderherlebens) und gesellschaftlichen Handelns nahelegt, kann uns keine Lösung liefern, da es das zentrale Problem darstellt.
Handlungsfähigkeit, wie sie die Kritische Psychologie definiert, umfasst die Dimensionen Emotionalität, Begreifen, Motivation und intersubjektive Verständigung. In ihrer entfremdeten Gestalt bleiben davon Innerlichkeit, Deuten, innerer Zwang und Instrumentalität. Die Unterscheidung zwischen restriktiver Handlungsfähigkeit – also der, die sich die eigene Existenz unter den gegebenen Bedingungen auf Kosten anderer und von sich selbst sichert (machen wir alle) – und verallgemeinerter Handlungsfähigkeit – also einer, die versucht, einen verallgemeinerten Standpunkt einzunehmen, einen, der potentiell allen zugutekommt (machen wir auch alle) – erscheint mir deshalb wichtig, da es die eigene Verstricktheit in die Verhältnisse je nach konkreter Situation für mich gut analysierbar macht. Damit werden auch besserwisserische Positionen, die aus einer scheinbar richtigen Position heraus andere abqualifizieren, sinnlos. Gerade in dieser Coronazeit erleben wir wieder einmal eine gesellschaftliche Spaltung zwischen Gefährdern und Gefährdeten, Coronaleugner_innen und Coronaschafen, Covidiot_innen und Regierungsapologet_innen usw.
Was wir beim Kampf um unsere richtige Positionierung und dem Kritisieren der falschen vergessen, ist die Spaltungsdynamik selbst. Natürlich ist nicht jede Spaltung überwindbar und ich halte „Reden mit Nazis“ in der Form, wie es oft passiert, nicht für sinnvoll. Aber wir sollten in unsere eigenen abgewehrten Anteile hineinhorchen. Dort, wo gedeutet wird (Verschwörung!), sollten wir begreifen (Zusammenhänge! Netzwerke! Abhängigkeiten!), dort, wo Instrumentalität dominiert, sollten wir zur Intersubjektivität wechseln, dort, wo wir uns Emotionalität vorgaukeln (Innerlichkeit), sollten wir uns unserer Gefühle in all ihrer Widersprüchlichkeit annehmen und den in ihnen eingeschlossenen Erkenntnisgehalt befreien (Emotionalität) und dort, wo wir uns zu Handlungen zwingen, sollten wir innehalten und uns fragen, was wir wirklich wollen. Ich für meinen Teil mag zwar Harmonie ganz gern, aber nicht um jeden Preis. Spaltungen mag ich gar nicht. Dafür liebe ich Widersprüche und diese zu analysieren und auszuhalten. Und wir sollten von Gefühlen reden, und zwar von unseren ganz persönlichen, unseren Ängsten, Bedürfnissen, unserer Hilflosigkeit, Ratlosigkeit, Verwirrung, Ausgeliefertheit, Abhängigkeit. Wenn diese Gefühle abgewehrt und verdrängt werden, liegt es nahe, die Verantwortung für den Verdrängungsaufwand anderen in die Schuhe zu schieben. Womit wir dann wieder bei der Spaltung wären. Die uns nicht weiterbringt.