Das Kinojahr 2020 ist durch Corona voller Anomalien. Manche davon bewirken eine Art 20/20 vision, zeigen deutlicher als sonst, was wir am Kino als öffentlichem Intimraum verlieren. Normal ist mittlerweile der fortgesetzte Lockdown des Filmschauens im Netz und im Privaten.
Das Corona-Kinojahr 2020: Zu seinen Seltsamkeiten zählt, dass unter seinen Top-Ten-Kassenschlagern einige Flops wie Dolittle sind – Verlustbringer für ihr Studio, die aber in Zeiten extrem niedriger Kinobesuchszahlen dennoch vergleichsweise viel einspielten. Weit vorne bei den hierzulande heuer einspielstärksten Kinoreleases ist Tenet, ein weiterer Kassenflop, mit dem im August der Lichtspielhausbetrieb zwischen Lockdown 1 und 2 seinen „Höhepunkt“ erreichte; und Bad Boys for Life, 2020 der weltweit erfolgreichste Hollywoodfilm. Beide Filme wollen die Zeit zurückdrehen: der eine im Rückwärtsablauf, der andere als Nineties-Retro-Vehikel, mit dem Will Smith an goldene Jahre anknüpft.
Im schnellen Vorlauf hingegen scheint heuer das Kino in China zu sein. Dessen Staatsmacht hatte die dort ausgebrochene Pandemie so rasch im harten Griff, dass der chinesische Blockbuster Ba Bai (The Eight Hundred) groß starten konnte und zum Film mit dem weltweit höchsten Einspielergebnis 2020 wurde. Dieses patriotische Kriegsgeböller (über ein in China „kanonisches“ Gefecht 1937 gegen japanische Invasoren) erinnert an die flag-waving Actionblockbuster eines Michael „Transformers“ Bay. Der begann seine Karriere mit den Bad Boys-Filmen – und produzierte nun recht exploitativ das erste Corona-Lockdown-Großdrama Songbird, gedreht im Juli in L. A., gestartet Mitte Dezember als Premium-Video on Demand (VOD).
Krisendrama des Kino-Kapitals 2020
Dass viele Filme mit großen Budgets und Namen nur online herauskommen, war schon vor Corona verbreitet und wird zunehmend normal. Eine Anomalie hingegen ist dies: In der Pause zwischen den Lockdowns – zwischen Lockdown 1 und 2 (und wohl wieder zwischen 2 und 3) – liefen diverse Filme, die dafür gar nicht gemacht und gedacht waren, recht lang und prominent in großen Kinos. Gebrauchsthriller wie Unhinged, an sich ein Kandidat für straight to VOD-Verramschung, wurden plötzlich zum Eventfilm, und das Angebot im Multiplex ähnelte zeitweise dem im Innenstadt-Arthauskino: vorwiegend kleine europäische Produktionen.
Diese Kinokrise, die wohl das langsame Ende des Filmschauens in Lichtspielhäusern als Massen-Freizeitkonsum definitiver macht und beschleunigt, geht ironischerweise mit etwas einher, das (mit allen perspektivischen Verzerrungen) wie ein unerwartetes Revival von Grundversorgungskino wirkt. Damit meine ich: Wenn die großen Eventmovies mit ihren Riesen-Werbebudgets und der Notwendigkeit, die Massen zeitlich gedrängt durch die Säle zu schleifen, ausfallen, dann dominieren im Kino auf einmal eher kurze Filme, deren Tickets ob des Wegfalls von Überlänge oder 3D-Brillen-Aufpreis noch halbwegs erschwinglich sind. Manches davon – nur manches; nicht etwa die anhaltend starke Präsenz von Dokumentarfilmen – erinnert an die Zeit vor dem Blockbustersystem, bis circa 1970, als Kino ein relativ kostengünstiger Spaß war; mit einem Angebot vorwiegend an klein und mittel budgetierter Dutzendware.
Ohne damit die Zeit der vielen Dorf- , Bahnhofs- und Grätzel-Kinos mit ihren ununterscheidbar betitelten, vor Abspielschrammen „verregneten“ Klamauk-, Sex- und „Wildwest“-Filmen romantisieren zu wollen (auch diese Zeit war hart, auch damals regierte die ÖVP, sogar ohne Grünschmuck): Von damaligen und heutigen Formen (oder Anmutungen) von Grundversorgungskino her fällt doch ein Licht auf etwas, durch das Kino sich nach wie vor unterscheidet. Ich schreibe bewusst nicht von etwas, das Kino „einzigartig“, „unverwechselbar“ etc. macht; solche Mystifizierung liefe dem zuwider, worum es bei diesem Unterschied geht. Es geht bei Kino – in der Stadt, wo es dafür kein Auto braucht – darum, dass ein Raum im städtischen Alltag sich für kurze Aufenthalte öffnet: ein öffentlicher Raum der Intimität (Heide Schlüpmann) für etwas, das dich, ob allein oder zu mehrt, für einige Zeit bei angenehmer Bestuhlung und Temperatur in Ruhe lässt, also dich aufregt, ohne dass du – wie bei Games – selbst viel tun müsstest. Und das nach circa 100 Minuten endet. Das ist ein Unterschied zur Serie, die dich über Tage/Wochen mäandernd begleitet, sich modulierend deinem Privatleben anschmiegt und immer ein Teil deines Besitzes an Screens, Devices und sonstigen Möbeln ist, denn: Serien laufen nie „da draußen“ im Kino, Filme manchmal doch.
Dieser beliebige Raum, der sich irgendwann auftut, unterscheidet Kino auch von der Eventkultur der Festivals – in deren Rahmen viele tolle Filme und kritische Diskurse (auch viele Gewinnspiele) überhaupt erst zur Existenz gelangen. Beim Filmfestival öffnet sich ein spezieller Event-Zeitraum wiederkehrend in der Stadt als Kulturstandort (seit dem Boom der Festivalisierung in immer mehr Städten; gegenüber dem Ausnahmshaften, das Festivals nun mal sind, ist ihre Verbreitung und Routinisierung fast paradox). Im Unterschied zum Festival, wo dein Auswählen, Karten-Checken, Dabeisein und Self-Display zählt, ist Kinogehen weitgehend keine Freizeit-Aktivität. Du kannst im Kino neben oder statt dem Filmschauen alles Mögliche tun oder auch nichts; du musst nicht tanzen wie im Club, repräsentieren wie im Theater, rackern wie beim Sport.
Nahversorger und Mitbringparty
Zwei Anmerkungen noch. Erstens will ich nicht das bürgerlich-avantgardistische Lied vom Kino als Tempel der „Enteignung“ in Armut und Passivität anstimmen. Kino war seit langem wesentlich auch Popcorn (oder reingebrachte Getränke), und sein Grundversorgungscharakter erhält sich auch dort, wo es sich in Esskulturen einklinkt. In Wien etwa in U-Bahn-nahen Malls als Plex inmitten von Systemgastronomie. Oder in Form der Anmutung einer „Bobo-Bewirtung mit angeschlossenem Vorführsaal“ beim Stadtkino im Künstlerhaus. Oder indem jene Italianità, die immer wieder Rekordbesuche auslöst, wenn das Filmmuseum sie aufs Programm setzt, sich im landesspezifischen Gourmetangebot der dortigen Foyer-Bar umsetzt: Antipasti zum Antonioni, alles sehr exquisit. Gar nicht zu reden von Wein-zum-Film- und Rum-zur-RomCom-Events (oder umgekehrt) in manchen Kinofoyers. Eher zu reden von den weit weniger elitären, im besten Sinn infrastrukturellen, stadterkundenden Freiluftabenden des Volxkinos: Jeden Sommer spielt es sein gemischtes Programm für gemischte Publika in Gstättn und Gemeindebauten, Parks und Fuzos fern der Kulturcluster; auch da leidet niemand Hunger oder Durst, weil es immer Hirschstettner Gebietsbetreuungszwetschkenfleck oder Jedleseer Hausbrand gibt, und Kebab gedeiht in Wien zum Glück überall.
Zweite Anmerkung: Kino und Pop- bzw. Clubmusik werden von der institutionellen Politik gleichermaßen ignoriert (kein Wunder: Wer aus diesen Szenen wählt schon Grün?), zumal in der Corona-Krise. Die schränkt allerdings den Club- und Konzertbetrieb massiver ein. Was wäre das Kino-Pendant zum zwangsweisen „Sitzkonzert“? („Stehkino“, naja …) Auffällig auch ein spezifisches Bad Timing der Club-Schließungen: Circa zeitgleich zu diesen etablieren sich, als (kultur-)technisch relativ neue Phänomene, mehrere Praktiken, die Gratis-Alternativen zu DJ-Musik-Clubs werden könnten. Das legte letzten Sommer der Anblick diverser simultaner Kleinpartys auf Wiesen und um Baumgruppen im Prater nahe; dort kamen, neben jungen Leuten mit Selbstversorgungsdrinks, junge Phänomene zusammen: neu erblühte Liebe zum Naturambiente und die Verfügbarkeit handlicher Partytechnik, also tragbare Musik in großer Laut- und Deko in großer Lichtstärke.
Werden sich Donaukanal und Arenawiese (wo mitunter auch ein Beamer fünf Leuten einen Film in die Gelsennacht projizierte) in Relation zum Club als das erweisen, was das einstige Fernsehen und Home Video, heute Streaming und Serien-Bingen im Verhältnis zum Kino sind? Schwer zu sagen. Umgekehrt aber: Während das Ende des großen Tonträgermarkts von einem Boom an Livemusik, auch abseits der Festivals, begleitet war, geht das Hinscheiden der DVD/BluRay als Ware nicht mit einem Boom der Live-Aufführungen von Filmen in Sälen einher: Nur wenige sehen im Kino etwas, das dem Warten auf my band coming to town oder auf den Beginn des Bühnenauftritts gleichkommt – einmal die auratische Präsenz dieser großen Soulsängerin, jener alten Punkband in echt erlebt haben … einmal diesen kaum mehr gespielten Fassbinder, jenen neuerdings wieder tourenden Spike Lee (also: die Filme) live sehen …
Wobei: Der Leiter des „alten“ Stadtkinos im 3. Bezirk meinte 2013 bei der letzten Vorführung dort, seine deutsch synchronisierte (!) Kopie eines Films von Robert Bresson habe einen „sehr schönen Klang“ gehabt. Und zwei im Machen, Fühlen und Denken ganz dem Kino als Raum verbundene Freundinnen von mir reisen schon mal zur Live-Aufführung einer bestimmten Kopie eines Films.