MALMOE

Motten und Giraffen

In dieser neuen Reihe schreiben Katharina Pressl und Marie Luise Lehner für die MALMOE-Literaturseite über das Wohnen, manchmal hochpolitisch oder eindringlich, manchmal humorvoll oder seicht. Diese Prosa verfolgt Spuren des Bewohntseins, etwa eine Matratze auf dem Dach oder eine Wäscheleine über der Straße. Sie wagt Rückschlüsse von Fischstäbchen-Multipacks in WG-Kühlschränken auf den Charakter der Benutzer*innen. Sie erzählt von Ordnungsbedürfnissen, Nudistenhaushalten, Müttern in Tiny Houses, der Nachbarschaft und Räumungen. Ebenso von Hamstern, Fischen, Maden, Schrebergärten und Legohäusern. Sie zeigt „die eigenen vier Wände“ aber auch als einen unsicheren und belastenden Ort für Frauen. Und nicht zuletzt ist die Umkämpftheit des Wohnraums Thema: als Spekulationsobjekt, Leerstand, neoliberale Rückzugsillusion, Arbeitsplatz unbezahlter Reproduktionsarbeit und überteuerte Notwendigkeit, die in diesem Jahr der Lockdowns über körperliche und psychische Gesundheit bestimmt.

Folge 1: Motten und Giraffen

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Die Chance den fetten Motten zu entkommen

Mit großer Wahrscheinlichkeit ist es eine Falle.

Neuerdings zünden wir das Altpapier in einer Schale am Dach an. Zuerst raucht es lediglich, bis es mit einem Mal heiß aufflammt. Daraufhin machen wir uns unten in der Wohnung auf die Suche nach weiteren entzündbaren Materialien. Sollten wir den Falter doch wieder abonnieren? Besonders ungesund erscheint die Farbe, in der die Verpackung des Geschirrspülmittels in Flammen aufgeht. Die Orangenschale brennt schlecht, der Apfel gar nicht. Beide zischen ewig vor sich hin, duften kaum. Wenigstens der getrocknete Salbei riecht im Feuer besser, als er im Tee schmeckt. Eine Freundin ist zu Besuch, sie macht uns glücklich, indem sie alles, was wir ihr vorsetzen, isst und trinkt. Gestern war die Rauchfangkehrerin Annemarie da und wir mussten die Feuerschale im Schlafzimmer verstecken. Seit Mitte November wohnen dort Trauermücken in den Pflanzentöpfen. Hin und wieder schütten wir Öl, das sie nicht mögen, in die Erde oder stochern mit Zündholzköpfchen nach ihnen. Die Kleidermottenlarven in der untersten Schublade waren ein Schock. Zum Glück handelte es sich dabei um eine Kleinfamilie mit getrennten Eltern. Wir haben sie mit 95 Grad gewaschen, es dürfte sich herumgesprochen haben. Zur Sicherheit ist die gesamte Wohnung mit Mottenpapier ausgelegt und das Essigwasser steht zehn Zentimeter hoch in jeder mit Lebensmitteln oder Textil gefüllten Schublade. Mittlerweile ist selbst das larvenfreie Gewand aussortiert und liegt, nach alter Tradition unseres Wohnhauses, im Stiegenhaus am Fensterbrett zur freien Entnahme. Tagelang liegen dort die Streifenpullis und die kurzärmligen Hemden unberührt. Wir versuchen es nicht persönlich zu nehmen, suchen später dennoch oben in der Wohnung nach Stickern mit politischen Aussagen, um ihnen trotzig klarzumachen, dass auch wir mehr als speziellen Geschmack besitzen.

So leben wir im majestätischen Pärchenplural dahin. Arbeiten, essen, informieren uns, trinken, machen etwas, das als Unterhaltung oder Entspannung gilt, schlafen, wachen auf, schütten Neem-Öl in den Aloe-Vera-Topf. In der Badewanne besprechen wir, was in der Welt nicht alles falsch laufe. Bevor ich in die Arbeit radle, spielen wir Richter und kichern herablassend über den Ö1-Moderator oder beglückwünschen ihn betont überrascht für eine verstörende Musikauswahl und harte, aber gerechte Sendungsinhalte.

Mit großer Wahrscheinlichkeit ist es eine Falle. Noch werde ich wütend, wenn jemand fragt, wie wir die Lasagne gemacht haben. Für die Lasagne habe ich keinen einzigen Finger gerührt. Noch plane ich für jedes uneindeutig an mich gerichtetes Ihr anzunehmen, meine Mutter sei mitgemeint. Für jedes „Wir haben das so und so gemacht“, was ich allein so und so gemacht habe, zahle ich einen Euro weniger Miete. Gerade habe ich noch Ideen von einem Haus mit zehn Zimmern für alle, die ich liebe, einem Gemeinschaftskonto und alternierender Arbeitslosigkeit. Aber morgen kaufe ich mir schlichtweg noch mehr Pinienkerne und Meersalzbadezusatz. Übermorgen hör ich auf zu schreiben. Und Ende nächster Woche planen wir zu investieren, während wir vorm neuen Flachbildschirm Kärnten Heute schauen und Speck jausnen, den wir lernten, mit den guten Messern besonders fein aufzuschneiden.

Die Wahrscheinlichkeit, entfliehen zu können, ist klein. Sich möglichst lang versuchen herauszuwinden, ist vielleicht alles, was bleibt. Wie Motten werden wir sein, die an der Klebefläche picken, fette Motten, die sich dort hin und her winden und wild zucken, egal wie gering die Chance sein mag, jemals der Falle zu entkommen.

Katharina Pressl

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Wenn Sie Frau Heidi Giraffe über mein Leben befragen

Frau Giraffe tritt in den Saal. Sie wird nach ihrem Beruf, ihrem Alter gefragt. Das wundert sie. Eigentlich solle man nach dem Alter einer Frau nicht so schamlos fragen. Sie hat es schon lange nicht mehr ausgesprochen. Sie muss sogar kurz nachdenken, es verändert sich ja schließlich ständig. Das Alter weiß kaum noch jemand. Knapp sagt sie dann: „Pensionierte Hausfrau“. Ihr wird eine Frage nach meiner Wohnung gestellt, sie antwortet, ohne nachzudenken. Wenn Heidi Giraffe vor Gericht eine Antwort zu meiner Wohnsituation gibt, muss sie immer erst von sich selbst sprechen. Bei jeder Frage der Richterin oder des Anwalts von meinem Hausbesitzer, einem Mietspekulanten und Grund meiner schlaflosen Nächte, spricht sie zuerst von sich selbst. Sie erklärt zu Beginn der Verhandlung ihren Tagesablauf, man lerne sie ja gerade erst kennen. Sie wohne allein. In der Früh gehe sie als Erstes zu ihrem Sohn. Er sei krank und könne nicht mehr eigenständig … Sie unterbricht sich. Sie macht eine Pause, die sagen soll, dass der Sohn gar nichts mehr eigenständig könne. Objektiv betrachtet, durchs Fenster in die Nachbarwohnung, finde ich, dass sie damit nicht recht hat. Um sieben Uhr dreißig komme sie bei ihm an und bereite dort bis acht Uhr dreißig das Frühstück zu. Das ist eine Zeit, in der ich gewöhnlich noch schlafe. Um acht Uhr dreißig mache sie sich auf den Weg zu ihrem Exmann, wo sie das Frühstück vorbereite und danach mit ihm esse. Dass sie dabei schweigen, sagt sie nicht. Heidi Giraffe spricht nicht gern darüber, dass er ihr geschiedener Mann ist, aber das wurde leider vorhin schon laut vorgelesen, als sie den Saal betreten hat, „geschieden“, da wo bei den meisten anderen wahrscheinlich „ledig“ gesagt wurde. Es sind außer Heidi Giraffe nur junge Menschen anwesend. In der Straße spricht sie immer von ihrem Mann. Immerhin weiß dort niemand so genau über ihren Familienstand Bescheid. Kaum jemand weiß, dass sie getrennt wohnen. Allein fühlt sich Heidi Giraffe aber nicht. Sie hat ja die Murli und auch zu mir in die Wohnung schaut sie regelmäßig. Dabei wird ihr offensichtlich nie langweilig. Da gibt es viel zu sehen. Darüber spricht Heidi Giraffe jetzt auch vor Gericht. Sie weiß eigentlich nicht, worum es bei der Verhandlung geht. Eingeladen wurde sie vom neuen Vermieter, dem Mann, der ein zweites Haus mit Terrasse aufs Dach gebaut hat. Er vermutet, dass sie ihm helfen könne, hat er zu ihr gesagt. Sie weiß, dass die Studierenden von nebenan vielleicht die Wohnung verlieren. Ich fürchte um meine Wohnung. Was in der Beweisführung relevant ist oder nicht, interessiert Heidi Giraffe nicht. Sie möchte ein bisschen plaudern. Das tut sie. Ungefragt in Form eines Monologs. Es ist ihr unangenehm, dass sie ständig angehalten wird, für das Protokoll. Sie muss dann mitten in einer Geschichte still warten, während die Richterin in ein Diktiergerät zum Beispiel sagt: „Da wohnen drei oder auch mehr Leute. Es gibt zwei Frauen und einen Mann. Aber ich bin nicht sicher, ob der dritte wirklich ein Mann ist, oder vielleicht auch eine Frau. Und die, oder eben der, wohnt im hinteren Zimmer. In dem die vielen Pflanzen stehen.“ Heidi Giraffe spricht darüber, dass eine Frau in der Früh immer ihr Bett mache. Die andere nicht. Es gäbe einen blonden Mann, der öfters zu Besuch käme, und eine Person mit Dutt. Ein seltsam gekleideter junger Mensch sei das. Generell findet Heidi Giraffe, dass erstaunlich viele Männer ein und aus gehen. Man wisse auch nicht, wer von denen mit wem, das gehe sie ja nichts an, aber interessieren würde sie es schon. Dass es sie interessieren würde, gibt sie vor Gericht nicht offen zu, lässt es aber vermuten. Man soll nicht zu neugierig wirken. Ein Gefühl dafür vermitteln, um was für eine Bagage es sich bei den Nachbarinnen handelt, möchte sie allerdings schon. Die Bewohnerinnen meiner Wohnung, der Nachbarwohnung von Heidi Giraffe, sind ihr suspekt. Deshalb beobachtet sie alles, was in der Wohnung vonstattengeht, durch die Fenster zum Hof umso genauer. Als Heidi Giraffe vor Gericht gefragt wird, wie viele Menschen in der Wohnung wohnen, man wolle ermitteln, ob es sich um einen Überbelag handele, sagt Heidi Giraffe sehr entschieden: „Viele!“ Sie wiegt den Kopf bedeutungsvoll hin und her, schüttelt sich kurz. Sie sehe sehr viele Leute in meine Wohnung kommen, sagt sie. Es würde dort außerdem oft bis nach ein Uhr nachts miteinander gesprochen. Manchmal würden die Bewohnerinnen nicht in Betten, sondern in Zelten schlafen. Zwei der Bewohnerinnen würden manchmal einen eigenartigen Tanz machen, sagt sie. Man esse am Küchentisch nicht mit Besteck, sondern mit den Händen. Alle würden sich gegenseitig die Haare schneiden und aus den toten Haaren würde man Stoffe filzen. Es würden unterschiedliche Sprachen gesprochen, und wenn sie sich nicht täusche, habe sie mich durchs geöffnete Fenster Arabisch, Russisch, Persisch, Somalisch, Argentinisch und Mexikanisch sprechen hören. Diese Sprachen spreche man bekanntlich laut. Heidi Giraffe reißt die Augen auf, schüttelt sich: „Sie können sich das sicher vorstellen.“

Als ich sie wenige Wochen nach der Gerichtsverhandlung frage, ob ich während der Ausgangssperre für sie einkaufen soll, sie sei schließlich eine von Corona gefährdete Risikogruppe, schluckt Heidi Giraffe kurz. Dass sie ja sagt und ich wenige Male auf ihren Wunsch Clever-Produkte vor die Wohnungstür stelle und jedes Trinkgeld dankend ablehne, fühlt sich an wie ein kleiner Sieg.

Marie Luise Lehner