MALMOE

Chronik der Verflechtungen: Auseinandersetzungen um symbolische Räume

Mit kolonialen Narrativen brechen – von Wien-Favoriten bis zu den Amerikas

Am Freitag, den 10. Juli, war einer der sonnigsten Tage in Wien im Jahr 2020. Auf dem Columbus-Platz im 10. Bezirk versammelten sich verschiedene Gruppen, um gegen Gewaltakte von zuvor stattgefundenen Aggressionen gegenüber türkischen und kurdischen Frauen zu protestieren. Diese ursprünglichen Proteste richteten sich gegen geschlechtsspezifische Gewalt in der Türkei. Die Aggressionen in Favoriten waren von den türkischen rechtsextremen Grauen Wölfen ausgegangen.  

Wenige Meter entfernt, im Columbus Shopping-Center, wird ein junger dunkelhäutiger Wiener vom Sicherheitspersonal festgenommen und aufgefordert, den Inhalt seines Rucksacks zu zeigen. Der Mann lehnt die Aufforderung ab und stellt die Frage, warum diese Kontrolle gerade bei ihm durchgeführt wird. Der Sicherheitsbeamte argumentiert, dies werde routinemäßig bei vielen Menschen gemacht. Der junge Mann weigert sich, den Inhalt seines Rucksacks zu zeigen, und argumentiert, dass dies nicht stimmt, denn die Sicherheitsperson habe ausschließlich ihn überprüft. Der junge Mann fühlt sich eingeschüchtert und in Gefahr und ruft die im Einkaufszentrum anwesenden Polizisten herbei, die die Demo vor dem Columbus Center begleiten werden. Viele Anwesende stehen in einer Art Solidaritätskreis herum und wären bereit, auf jeden Missbrauch zu reagieren. Angesichts all dieser zahlreichen Menschen lässt der Sicherheitsmann den jungen Wiener gehen. 

Bei diesem Ereignis handelt es sich nicht um eine individuelle Geschichte, sondern um eine systematische Praxis, mit der bestimmte Bevölkerungsgruppen ständig konfrontiert sind. Sie werden aufgrund ihrer phänotypischen Merkmale von Sicherheitskräften Praktiken der Wachsamkeit unterworfen. Diese Praktik der Rassifizierung wird als Racial Profiling bezeichnet. Solche konkreten rassistischen und täglichen Situationen sind das, was die Black Lives Matter-Bewegung nun sichtbar macht und gesellschaftlich anklagt.  

Es gibt auch andauernde und systematische Formen der Unterdrückung. Diese werden von denjenigen erfahren, die die Zerstörung ihrer Lebensräume und die Auferlegung von Lebensmodellen erleben, welche inzwischen als Entwicklungsmodelle bezeichnet werden. Diese Gewalt gegen rassifizierte, verarmte, geschlechtsspezifische Bevölkerungen und Gemeinschaften im globalen Süden hat gemeinsame Ausgangspunkte und ist mit den fortlaufenden Strukturen des kolonialen Systems (Kolonialität) verbunden.

Kolonialgeschichte im Stadtraum Wien

Dem oben erwähnten Protestmarsch hatte sich auch das Kollektiv antikolonialer Interventionen in Wien angeschlossen (von dem die Autorinnen Teil sind). Ziel ihrer Teilnahme war es, einerseits den direkten Zusammenhang zwischen verschiedenen Formen der Zerstörung von Lebensformen als Produkt eines kapitalistischen/kolonialen/modernen Systems aufzuzeigen (dessen Grundlage auf der Annexion Amerikas an ein universalisierendes Projekt der Ausbeutung von Arbeit, natürlichen Ressourcen, Wissen und der Zerstörung von Welten beruht) und andererseits das Engagement vieler Gruppen um eine Lebensweise zu verdeutlichen, die auf ein gutes Leben abzielt.

Die Aktion am Columbusplatz war von den Organisatoren nicht zufällig gewählt. Die zentrale Stellung der Figur von Christoph Kolumbus in der Erzählung und Darstellung eines historischen Prozesses, der am 12. Oktober 1492 offiziell eingeleitet wurde, ist Teil einer Reihe von apologetischen Geschichtsschreibungen. Darin wird die Figur des Kolumbus als risikofreudiger Seefahrer dargestellt, dessen Unterfangen in einem Erfolg für die Menschheit gipfelte. In Wien gibt es mindestens zehn Orte, die Kolumbus als den „Entdecker Amerikas“ bezeichnen. Eine Figur, die in Lateinamerika oder Abya Yala (ein Name, der sich in den letzten Jahren als eine Praxis der Selbstbenennung aus indigenen Ansichten verbreitet hat) seit mehreren Jahrzehnten stark in Frage gestellt wird, wird in Wien immer noch auf heroische Weise dargestellt. 

Die Medien spiegeln das Geschehen im öffentlichen Raum wider und artikulieren auch eine scheinbar „neutrale“ Perspektive auf diese Figur. Ein aktuelles Beispiel ist die Veröffentlichung eines Artikels in der Zeitung Die Presse am 17.06.2020 im Rubrikteil Geschichte mit dem Titel: „Wie schlimm war dieser Kolumbus wirklich?” Darin wurde dazu aufgerufen, die Figuren der hispanischen Kolonisatoren zu „respektieren“. Kolonisatoren-Statuen wurden an verschiedenen Orten weltweit zu den intensivsten Momenten der Black Lives Matter- und anderer sozialer Proteste angegriffen, in ihre Repräsentation wurde interveniert oder sie wurden gar zu Fall gebracht.

Der Artikel in Die Presse bezeichnet die spanischen Eroberer als „Sprachretter“, weil die Missionare die Muttersprachen erlernten, um eine Bekehrung zum katholischen Glauben zu erreichen. Dies, zusammen mit der Gründung von Universitäten und dem Schreiben und Drucken von Büchern: „nur so konnten sie (indigene Sprachen) in den Kulturen der Anden, die keine Schrift kannten, bis heute überleben“.

Solche Aussagen wurden in Lateinamerika als nicht fundamentierte Aussagen bereits widerlegt. Es gab und gibt erwiesenerweise noch verschiedene Formen der Wissensvermittlung, die vor der Ankunft der europäischen Schrift funktionierten. Manuskripte verschiedener Arten: Khipus, Kalender oder mündliche Geschichten wurden vernichtet oder angegriffen, da diese als potenzielle Werkzeuge für einen Aufstand gesehen wurden. Andere Objekte, die als Formen der Wissensvermittlung dienten, wurden aus den Kontexten ihres Gebrauchs entfernt und in Schränken als Kuriositäten aufbewahrt. Sie wurden Teile von Sammlungen von Museen, weit entfernt von den Menschen und Orten, an denen sie weder eine Funktion noch eine Bedeutung hatten, ohne jegliche detaillierte Erklärung, wie sie an die neu ausgestellten Ortekamen.

Diskurse, die in Frage gestellt werden müssen

Die Erzählungen von „Entdeckung“, „Expandierung“, „Zivilisation“ müssen hinterfragt und diskutiert werden. Diese Termini bezeichnen Prozesse, die tiefgreifend und negativ auf Millionen Menschen in den Regionen, die koloniale Erfahrungen gemacht haben, Einfluss genommen haben. Es war kein Zivilisierungsprojekt, es ist ein koloniales Projekt. Grundlage dieses Projekts ist u. a. die Trennung zwischen Menschen und „Natur“, wobei hier letzteres das Angebot vorgibt, es existierten unbegrenzte vorhandene Ressourcen. Beide wurden zu austauschbaren Rohstoffen umgewandelt, die die Schätze und den Reichtum kolonialer Zentren vergrößern.

Die Wesen außerhalb dieses Projekts, „die Anderen“, spielten und spielen immer noch eine untergeordnete Rolle, die weiterhin als billige, ersetzbare und sich aufopfernde Arbeitskräfte fungieren und nicht in die Erarbeitung und Aushandlung eines gemeinsamen historischen Projektes eingebunden werden sollen bzw. deren Rolle in der Reproduktion der Strukturen des merkantilen Austauschs liegt. Die Figuren der Wilden, Kannibalischen, Exotischen, Ketzer, Armen, Unterentwickelten sind notwendige Darstellungen, die all jene Ausbeutungsformen rechtfertigen, die gegen die in diese Kategorien eingeordneten Bevölkerungsgruppen ausgeübt werden.

Solch ein koloniales/modernes Projekt erfordert die Entstehung notwendiger Erzählungen, die die Auferlegung bestimmter Lebensformen rechtfertigen. Das Geschlechts-/Sexuelle Identitätssystem ist eine unverzichtbare Grundlage für die Prinzipien der Hierarchie des gesellschaftlichen Lebens, sowohl in den Regionen mit kolonialen Erfahrungen als auch in den Machtzentren. Die binäre Trennung Mann/Frau ist eine Form der Klassifizierung sozialer Funktionen. Dabei positionierten sich selbst die elitären, weißen, europäischen, gebildeten Männer als Herrscher der Machtmechanismen und als Regulatoren der Körper.

Fragen zum städtischen Raum

Die Diskussion über städtische Räume, Symbole und Namen ist Bestandteil des Streits über Bedeutungen, über die Konstruktion von Geschichten, die jede Gesellschaft für sich selbst erstellt. Die Erzählungen historischer Ereignisse sind nicht neutral, ebenso wenig wie ihre Darstellung im städtischen Raum. Der Anspruch von Neutralität verdeckt und reproduziert alles Verborgene, und in dieser Verborgenheit wird eine Normalisierung verschiedener historischer Prozesse angestrebt. Die Namen und die Geschichten hinter den Plätzen, Straßen, Werbemarken, Speisetellern sind die Fortsetzung von Ideen, die mittels kolonialer Praktiken entstanden sind. Diese Begriffe weiterhin zu verwenden, ihre Infragestellung zu vermeiden, führt zu der Normalisierung dessen, was sie repräsentieren.

In dieser Auseinandersetzung um Repräsentation, Symbole, materielles und immaterielles Erbe, die Benennung öffentlicher Räume, jene Figuren, die bei der Initiierung, Ausführung und Umsetzung kolonialer Praktiken und Diskurse eine Rolle gespielt haben, werden zum Brennpunkt heftiger Kritik. Dies ist der Fall bei Statuen von Christoph Kolumbus in Spanien und an anderen Orten der Welt: Leopold II. in Belgien, Edward Colston in Bristol, England, Pedro de Valdivia in Chile, Sebastián de Belalcázar in Popayán, Kolumbien, neben vielen anderen Beispielen, wo Denkmäler kolonialer Ordnung interveniert, beschädigt oder entfernt wurden.

Das symbolische Terrain ist nicht der einzige Raum, über den man nachdenken und in den man eingreifen muss, denn die Änderung des Namens eines Ortes im städtischen Raum bedeutet nicht automatisch die Beseitigung von Rassismus, Machismo oder kolonialen Strukturen. Die Diskussion und Hinterfragung der Perspektiven, wie soziale Prozesse erzählt und interpretiert werden, erlaubt es jedoch, die Grundlagen der aktuellen gesellschaftlichen Situationen sichtbar und verständlich zu machen. So können wir begreifen, wie diese Grundlagen im Alltag funktionieren, die materiellen und symbolischen Flüsse und die globalen Auswirkungen unserer Lebensweise auf menschliche und nicht-menschliche Wesen.

Re-Existenzen und Widerstände

Das Überdenken der Geschichte, welche unsere Selbstwahrnehmung und die der Welt prägt, ist keine einfache oder abgeschlossene Übung. Es ist ein Prozess, der ständig angefochten wird. Es bedeutet, den Spuren unserer Benennungspraktiken zu folgen, die Erkundung der Entstehung von Mechanismen, welche einigen privilegierte Stellung zuordnen, während andere ausgeschlossen, verleugnet, versteckt oder angegriffen werden. Es geht darum zu verstehen, wieso Männergruppen, die Frauenorganisationen auf der Straße, die sich politisch äußern, angreifen oder auch wieso Menschen wegen phänotypischer Merkmale kriminalisiert werden.

Für uns ist das Vorgehen gegen koloniale Denkmäler der Ausdruck dieses Anliegens, mit Narrativen zu brechen, die unsere oder andere Geschichten aus einer universalistischen Perspektive erzählt oder diese geleugnet haben. Aus diesem Grund führen wir an jedem 12. Oktober Aktionen durch, die die Folgen des kolonialen Modells widerspiegeln, aber auch Wissens-, Lebens- und Seinsweisen feiern und benennen, die weiterhin präsent sind und andere Arten von Beziehungen zur Welt hervorbringen.

Ein Beispiel dafür sind jene Räume und Praktiken, die eine Affinität zu Buen Vivir – Gutes Leben (eine spanische Übersetzung der Quechua- und Aymara-Begriffe von Sumak Kawsay bzw. Suma Qamaña) haben. Die auf der Suche nach einer vollständigen Ausrichtung einer Wechselbeziehung mit dem Planeten Erde sind und so die Grundlage darstellen, die aktuellen sozio-ökologischen Krisen zu bewältigen.

Die Autorin, Marcela Torres Heredia, wurde mit Feedback von Imayna Caceres unterstützt.

Am Montag, dem 12. Oktober 2020, findet von 16:00 bis 19:00 Uhr am Columbusplatz in 1100 Wien die Aktion Antikolonial Resistencias 2020 statt.