MALMOE

Rezensionen – Oktober 2020

Klassismus in der Wissenschaft

Für ihr Buchprojekt haben der Historiker Riccardo Altieri und der Politikwissenschaftler Bernd Hüttner dazu aufgerufen, über persönliche Erfahrungen mit der Benachteiligung aufgrund sozialer Herkunft und Klassenunterschieden in Bildungsinstitutionen und im Wissenschaftsbetrieb zu schreiben. Dabei ging es den Herausgebern nicht darum, sich an der „richtigen“ Definition des Klassismus-Begriffs abzuarbeiten, sondern den Fokus auf die individuellen Bewältigungsstrategien zu legen. In insgesamt 16 Beiträgen kommen Autor_innen aus Deutschland und Österreich zu Wort, die trotz statistischer Unwahrscheinlichkeit aus einem Arbeiter_innen- oder bäuerlichen Milieu oder verschiedener schwieriger Lebensumstände, wie Gewalterfahrung, chronischer Krankheit oder einer schlicht ständig prekären finanziellen Situation einen „Bildungsaufstieg“ geschafft haben.   

Wiederkehrende Themen der Beiträge sind die Zerrissenheit und Entfremdung zwischen Herkunfts- und akademischen Milieu, die sich oft im Wechsel zwischen Wissenschafts- und Alltagssprache, geschliffener Hochsprache und dem meist abgewertetem Dialekt ausdrückt. Thematisiert wird die Unsicherheit, trotz akademischer Erfolge nicht „dazu zu gehören“ oder die Erkenntnis, dass das Selbstbewusstsein mancher Kolleg_innen und die größere Risikobereitschaft, eine Laufbahn im prekären Wissenschaftsbetrieb einzuschlagen, nicht zufällig mit einem familiären Sicherheitsnetz zusammenfällt.   

Besonders interessant ist zu lesen, wo subtile klassistische Ausgrenzungsmechanismen und Abwertungen erkannt und benannt werden und durch welche Erfahrungen sich für die Autor_innen die Perspektive ändert, vielleicht doch am richtigen Ort zu sein. Der Band ist von der positiven Note getragen, dass die Autor_innen sich vielfach einen Platz im akademischen Feld erkämpft haben, aber auch einem pessimistischen Befund, dass die Tendenz in Richtung einer weiteren „sozialen Schließung“ geht. Die Verbindung von persönlicher Erfahrung mit theoretischer Analyse macht das Buch zu einer lebendigen Lektüre mit dem Potential, notwendige Diskussionen über die elitäre Universität und ihre Ausschlüsse anzustoßen.

Riccardo Altieri, Bernd Hüttner (Hg.) (2020): Klassismus und Wissenschaft. Erfahrungsberichte und Bewältigungsstrategien. BdWi-Verlag, Marburg. 14 Euro

Rezensiert von Bernadette Schönangerer

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Antifa heißt Angriff

Antifa – schon der Begriff ist für manche ein Problem, und das nicht erst seit Trump. Er beschwört Bilder von brennenden Autos und eingeschlagenen Fenstern herauf, von vermummten Menschen mit radikaler Ideologie. Stress ohne Grund. Nun kann man in seiner linken Diskursblase ruhig den Kopf darüber schütteln, dass es immer noch Menschen gibt, die nicht wissen, was diese Abkürzung überhaupt bedeutet, aber das hilft ja auch niemandem weiter.

Gord Hill weiß Rat. Der kanadische Comiczeichner setzt da an, wo auch der Widerstand seinen Anfang nimmt: beim Begriff des Faschismus und den mörderischen Auswirkungen dieser Ideologie. Der Fokus des Buches liegt aber auf den vielfältigen Formen des kollektiven und individuellen Widerstands, die den Aufstieg faschistischer Bewegungen von Anfang an begleitet haben. Von den Arditi del Popolo in Italien und den Roten Frontkämpfern in Deutschland, den Partisan*innen in Jugoslawien und den republikanischen Kräften des spanischen Bürgerkriegs, bis hin zur Formierung des antifaschistischen Kampfes der Nachkriegszeit mit der Group 43, Anti Fascist Action in England und der deutschen Antifa. Hill dokumentiert in diesem Comic den ausdauernden, militanten Kampf gegen den Faschismus und zeigt dabei auch die Verbindungen historischer Kämpfe auf. Er geht dabei in unterschiedlichem Umfang auf die Entwicklungen in Italien, Frankreich, Griechenland, Schweden, Russland und Kanada ein, bevor er sich im letzten Teil eingehend mit der spezifischen Situation der USA beschäftigt – auch langjährige Aktivist*innen finden hier sicherlich viel Neues.

Hills Illustrationen sind einfach und direkt, aber gerade deshalb auch äußerst effektiv. Die Fülle an Jahreszahlen, Namen und Daten wird dadurch greifbar und die Abbildungen verleihen der langen Tradition des antifaschistischen Widerstands emotionales Gewicht jenseits der reinen Fakten. Insgesamt bietet Antifa – Hundert Jahre Widerstand einen ausgezeichneten Überblick, der keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, sondern frei von Szenejargon einen großartigen Einstieg in dieses wichtige Thema bietet. Ein schön gestalteter Comic, den man auch bedenkenlos verschenken kann, wenn wieder einmal die Frage aufkommt: „Antifa, was ist das eigentlich?“ Diese Frage wird nämlich schon auf den ersten drei Seiten klar beantwortet: Antifa heißt Angriff.

Gord Hill (2020): Antifa – Hundert Jahre Widerstand. Bahoe Books, Wien. 17 Euro

Rezensiert von Paul Nachtigall

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Links der Linken eine Gegenerzählung zu gängigen Narrationen der USA

Den liberalen Mainstreammedien folgend könnte einer glauben, dass die USA im Begriff wären jede Sekunde zu zerfallen. Die Apokalypse – zwischen Waldbränden, bürgerkriegsähnlichen Zuständen, rassistischer Polizeigewalt und post-kolonialen Konflikten im „Meltingpot“. Alles zeigt nur Richtung Untergang. Links der Linken von Anatole Dolgoff verschafft da einen gelungenen Perspektivwechsel. Im Buch wird die Geschichte der radikalen Arbeiter_innenbewegung in den USA entlang der Biografie des Vaters, US-Anarchiste Sam Dolgoff, erzählt. In knapp gehaltenen Kapiteln werden Lesende mitgenommen in die von Konflikten und Auseinandersetzungen geprägten Zeiten des 20. Jahrhunderts der USA. Straßenkämpfe mit mussolini-nahen Faschos, Interessenskämpfe auf Streikveranstaltungen, Grabenkämpfe mit (teils dann auch nicht mehr) befreundeten Anarchist_innen und verfeindeten Marxist_innen. Ein turbulentes Jahrhundert, das neben Arbeiter_innenkämpfe von Auseinandersetzungen um Rassifizierungen gekennzeichnet war .

Tagsüber war Sam Dolgoff als Maler tätig, nachts schrieb er intellektuelle Abhandlungen. Ein hart arbeitender Intellektueller der Arbeiter_innenklasse, der sich stets kritisch und nie essentialistisch positioniert hat und für keine Revolution blinde Sympathie empfand. Dem Sohn gelingt es den eigenen Vater nicht zu glorifizieren, er übt durchaus  Kritik am Alkoholismus des Vaters oder der Vernachlässigung seiner Verantwortung als Vater. Neben der Ereignisgeschichte werden im Werk viele Migrationslinien aufgedröselt. Sei es nach dem Spanischen Bürgerkrieg, drohenden Deportationen in der Sowjetunion oder Flucht aus Nazi-Europa. Die breite Rekonstruktion von Migrationsrouten weist auf die Komplexität der US-Amerikanischen Gesellschaft. Über den biografischen Zugang wird eine Sicht auf die Geschichte der USA des 20. Jahrhunderts geliefert, die fragmentarisch, widersprüchlich und authentisch ist.

An manchen, wenigen Stelle irritiert die Objektivierung von Frauen, denen in dem Werk allgemein eher wenig Aufmerksamkeit gezollt wird. Der Aufbau des Buches über kurze gehaltene Kapitel macht es zu einem zugänglichen Werk, das sich leicht bei kürzeren Pausen, in den Öffis oder vorm Einschlafen lesen lässt.

Anatole Dolgoff (2020): Links der Linken. Sam Dolgoff und die radikale US-Arbeiterbewegung. Verlag Graswurzelrevolution, Berlin. 24,90 Euro

Rezensiert von Teo Klug

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„Zwischen Leber und Nierchen passt immer noch ein Bierchen“

Christian Baron hat in Ein Mann seiner Klasse seinem Vater zwar keine Absolution erteilt, aber schildert die Mischung aus Alkohol, Armut und Gewalt, in der er aufgewachsen ist, mit tiefer Traurigkeit und Liebe. Der Vater ist Möbelpacker. Ein Knochenjob und das Geld reicht nie bis zum Ende des Monats für die sechsköpfige Familie. Christian Baron ist der Zweitgeborene, hat studiert und verdient sein Geld als Journalist. Das Buch beruht auf seinen Erinnerungen und Gesprächen mit seiner Tante und seinem Bruder. Seine Mutter ist schon lange tot, an Krebs gestorben. Er und seine Geschwister kamen zu seiner Tante Juli. Sein alkoholkranker Vater hatte keine Chance auf das Sorgerecht. Und das war ein Glück für die Kinder, wenn man das Buch liest. Der Vater kommt nicht gut weg: Rassist, Sexist, gewalttätig und auch sonst ein ziemliches Arschloch. Klar ist er manchmal irgendwie lieb, spielt mit den Jungs Super Mario Bros oder geht mit den Kindern (einmal im Jahr) auf den Rummel. Und wenn er den Sohn in das Schnorres, seine Stammkneipe mitnimmt, ist das für den Kleinen das Paradies. „Küsschen hier, Schulterklopfen dort, Scherzchen hier, anzügliche Witze. So kannte ich meinen Vater nicht. Mir war sofort klar: Von hier würde ich nie wieder fortwollen.“ Und klar steht zwischen Zigarettenrauch und Bier das Frittierfett, aber „Frittenfett ist Heimat.“ Doch das sind die absoluten Ausnahmen. Die Beziehung zum Vater ist in erster Linie von Gewalt bestimmt. Egal ob die krebskranke Mutter, die am Tropf hängt, deren schwangere Freundin oder die Kinder – alle werden vom Vater geschlagen.

Nur einer nicht. Er taucht immer wieder wie ein Geist auf. Der Vater des Vaters, den die Kinder nur Freddy Krueger nennen. Das Gesicht vom Alkohol zerfressen. Eine Heimsuchung aus der Zukunft, die vor allem die Mutter misshandelt. Wenn er seinen Alten endlich rausgeschmissen hat, gelobt der Vater natürlich Besserung. „Wochenlang war Ruhe, mein Vater erhob gegen niemand die Hand, brüllte niemand an, ließ Mama einfach in Ruhe. Es häuften sich die Abende, an denen er seine Späße mit uns trieb, uns seine ‚Gutsten‘ nannte, uns umarmte, uns Geld schenkte, Lambada von Kaoma aufdrehte und mit uns durch die Wohnung wirbelte.“ Aber das geht schnell vorbei. Dann geht er wieder in die Kneipe oder versäuft am Sofa das letzte Geld. Und dann hungern alle. Und sie haben nicht nur einfach Hunger. Die Kinder kratzen den Schimmel von der Wand und essen ihn. Strom gibt es da schon länger nicht in der Wohnung. Und nachts werden die Mülltonnen nach Essbarem durchwühlt. Das Buch ist krass und ich musste mehrmals weinen vor Wut und Verzweiflung. Auch die Kapitel sind mit Emotionen übertitelt: Scham, Angst, Schmerz, Zorn. Nichts was irgendein Kind, irgendein Mensch erleben sollte. Aber auch Glück, Überraschung, Liebe – und das sind die starken Momente. Christian Barons Schilderung seiner Kindheit und Jugend ist eben kein Sozialporno, sondern eine Geschichte, die das Leben literally geschrieben hat. Das tut weh und das ist lustig, das sind große Gefühle und manchmal ist das schon kitschig, aber irgendwie auch schön. Großes Kino jedenfalls, wenn am Ende alle Kinder The Rose von den Kellys singen – übrigens die Lieblingsband der Mutter.

Christian Baron (2020): Ein Mann seiner Klasse, Claassen, Berlin. 20,60 Euro

Rezensiert von Philipp Moritz