Zur Situation der von Wohnungslosigkeit bedrohten Geflüchteten in Griechenland
Platia Viktoria ist ein Platz im Zentrum Athens, dort leben hunderte von Refugees, unter ihnen viele Familien, Schwangere und unbegleitete minderjährige Geflüchtete. Sie haben keine Wohnung und müssen auf dem Platia Viktoria schlafen. Die rechte griechische Regierungspartei Nea Dimokratia hat kein Interesse an einer politischen Lösung, sie versucht das Problem mit mehr Polizei zu lösen. Mehrere Menschen aus der Nachbarschaft haben sich zusammengefunden, um die Refugees am Platia Viktoria zu unterstützen. Auch sie sind damit im Fokus der Repression.
Von den Inseln nach Athen
Neben solchen solidarischen Nachbarschaftsgruppen gibt es noch andere Unterstützer*innen. Maryam, selbst aus dem Iran geflüchtet, ist bei der Gruppe Not Leaving My Home aktiv. Vor zwei Jahren haben sie und ihre beiden Kinder in Griechenland Asyl erhalten. Seitdem engagiert sie sich für Geflüchtetenrechte und ist im anarchistischen Kontext aktiv. Sie erklärt, warum Geflüchtete zum Platia Viktoria kommen: „Sie kennen die Stadt nicht, sie können die Sprache nicht. Der einzige Ort, von dem sie in Moria gehört haben, ist Viktoria. Deshalb kommen sie auf den Platia Viktoria, um eine Lösung zu finden, aber auf Viktoria gibt es keine Lösung.“ Die meisten Menschen, die auf dem Platia Viktoria schlafen, kommen aus dem Flüchtlingslager Moria auf der Insel Lesbos. Dort oder in anderen Lagern müssen sie aufgrund der griechischen und EU-Gesetze während ihres Asylverfahrens bleiben, obwohl es dort weder genug Essen noch genügend Wasser, Unterkünfte oder Ärzt*innen gibt. Ganz abgesehen von Schulen für die Kinder oder der Möglichkeit zu arbeiten. In den oft abgelegenen Camps sind Gewalt und Brände an der Tagesordnung, die Menschen sind isoliert und werden unsichtbar gemacht.
Im Mai 2020, gleich nach dem Lockdown, bekamen plötzlich hunderte Menschen in Moria die Erlaubnis, das Lager zu verlassen – ihr Asylantrag wurde positiv beschieden. Die Refugees bekamen einen blauen Stempel für Asyl in ihren „Ausweis“ (deutsch im Original) und damit die Hoffnung auf einen Pass nach einer weiteren Irrfahrt durch die Bürokratie. Viele gaben ihr für Lebensmittel gedachtes UNHCR-Taschengeld von etwa 40 Euro für ein Fährenticket nach Athen aus. In Athen angekommen, haben die meisten zunächst keinen Plan, wohin. Also fahren sie mit der U-Bahn zum Platia Viktoria, weil dort alle sind. Sie hoffen von dort aus eine Unterkunft zu finden, eine Einnahmequelle.
Bürokratische Paradoxa
Doch das stellt sich als sehr schwierig heraus: Es gibt keine staatliche Unterstützung. Es gibt keine Angebote für Übersetzungen. Und die Bürokratie verunmöglicht es den Geflüchteten, sich in Griechenland ein neues Leben aufzubauen. Das lässt sich gut am Beispiel der Steuernummer zeigen – die Voraussetzung für eine legale Arbeit wie auch für das Anmieten einer Wohnung. Maryam fasst das Dilemma zusammen: „Um eine Wohnung mieten zu können, braucht man eine Steuernummer. Um eine Steuernummer zu bekommen, braucht man eine Meldeadresse. Das heißt, wenn man keine Steuernummer hat, bekommt man keine Meldeadresse, wenn man keine Meldeadresse hat, bekommt man keine Steuernummer und kann nicht arbeiten. Es ist wie die Geschichte mit dem Huhn und dem Ei.“ Es gibt für Geflüchtete also kaum eine Möglichkeit, eine Wohnung zu finden, selbst wenn sie genügend Geld haben. Diese Menschen werden systematisch in die Wohnungslosigkeit getrieben.
Selbstverständlich gibt es eine NGO, die dafür zuständig ist und die auch vom griechischen Staat gefördert wird – HELIOS. Das „Integrationsprogramm“, das HELIOS für Menschen mit positivem Asylbescheid anbietet, beinhaltet den Bezug von ein wenig Wohngeld für insgesamt sechs Monate. Aber dieses Programm hat wieder dieselben bürokratischen Hürden: eine Steuernummer, eine Meldeadresse und ein Bankkonto. Das zu bekommen, braucht sehr viel Zeit, ebenso Griechischkenntnisse oder Übersetzungen, und scheitert oft an der rassistischen Praxis bei der Vergabe von Wohnungen und Bankkonten. Ein Asylbescheid ist also für diese Leute gleichbedeutend mit Wohnungslosigkeit.
Zwischen Dealern und Cafés
Platia Viktoria ist ein zentral gelegener Platz in Athen. Das Viertel um den Platz ist migrantisch geprägt und liegt gleich neben dem anarchistischen Stadtteil Exarcheia. Zwischen 20 und 200 Geflüchtete, unter ihnen viele Kinder, campieren dort bei 35 Grad unter den Platanenbäumen. Sanitäranlagen gibt es keine, Wasser muss in einem der umliegenden Kioske gekauft werden. Im Norden des Platzes befindet sich eine Metrostation. Es gibt viel Gedränge und ständig laufen Passant*innen an den Schlafplätzen der Geflüchteten vorbei. Manche beschimpfen die Geflüchteten im Vorbeigehen und schreien sie an. Es gibt auch jede Menge Menschen, die mit allem möglichen handeln. Sie verkaufen Drogen, bieten den Refugees Wohnungen oder gefälschte Steuernummern an oder wollen Geld gegen Sex eintauschen. Ein Bett in einem kleinen Raum, wo zwischen zehn und 15 Betten stehen, kostet etwa 150 Euro, eine falsche Steuernummer 50 Euro. Es gibt auch die regulären Geschäftsleute am Platia Viktoria, die Besitzer*innen von Cafés und Läden, die Kinder anschreien, wenn sie auf ihren Stühlen sitzen oder die Decken zu nah an die Tische rücken. Sie rufen die Polizei, denn das ist schlecht fürs Geschäft. Die Gäste können ihren Kaffee eben nicht genießen, umgeben von Refugees, die auf der Straße schlafen.
Polizei statt Unterstützung
Seit Covid-19 ist es noch schlimmer, so Maryam: „Wir brauchen Krankenhäuser, keine Polizist*innen.“ Der griechische Staat investiert hingegen weiter in Überwachung, Millionen an nationalen und an EU-Geldern fließen in Grenzkontrollen und den Ausbau des Polizeiapparats. Und damit eben nicht in Wohnungen, medizinische Versorgung oder Unterstützungsangebote. Auch die Probleme am Platia Viktoria beantwortete die griechische Regierung Mitte Juni 2020 mit einer Welle der Repression.
Am Montag, den 15. Juni, stürmte eine Antiterroreinheit um sieben Uhr morgens den Platz, um die Menschen zu vertreiben. Dabei setzten die Polizist*innen zunächst auf Verhandlungen: Sie erzählten von einem Hotel, einem sicheren Ort, an den die Geflüchteten mit Bussen gebracht werden würden. Einige solidarische Personen waren anwesend und verständigten andere Gruppen. Viele von ihnen kamen auf den Platz, sprachen mit der Polizei und versuchten herauszufinden, wohin die Busse fahren sollten. Auch auf eine Übersetzung und die Zustimmung der Geflüchteten beharrten sie. Die Polizei zog sich zurück und die Geflüchteten berieten sich in einer Versammlung. Die Geflüchteten beschlossen schließlich die Nacht am Platia Viktoria zu verbringen und baten die anwesenden Unterstützer*innen zu bleiben. Etwa 30 von ihnen blieben und hielten Nachtwache. Auch am nächsten Tag blieben die Unterstützer*innen präsent, wie auch die Polizei. „Wir verstehen eure Probleme, aber die Geschäfte verlieren ihre Einnahmen, weil ihr hier seid“, erklärte ein Polizist. Die Tourismussaison fing gerade an und Griechenland wollte sich als perfektes Urlaubsziel für wohlhabende Europäer*innen präsentieren, da passten wohnungslose Geflüchtete nicht ins Bild. In der Nacht auf Mittwoch, den 17. Juni, gegen drei Uhr stürmte abermals eine Antiterroreinheit den Platz, verfrachtete über einhundert Menschen in Busse und nahm elf der anwesenden Unterstützer*innen fest. Das Ziel der Busse war das Flüchtlingslager Eleonas im Nordenwesten von Athen.
Eine Irrfahrt durch Griechenland
In den nächsten Tagen kamen immer wieder Polizeieinheiten und brachten Geflüchtete in verschiedene Lager in ganz Griechenland. Dort stehen sie dann erst wieder vor verschlossenen Toren: Die meisten Lager sind überfüllt und nehmen Menschen mit positivem Asylbescheid überhaupt nicht auf. So auch in Eleonas, wo die Geflüchteten mehrere Nächte außerhalb des Lagers campieren mussten und keinen Zugang zu Sanitäranlagen hatten. In Griechenland sind über 10 000 Asylberechtigte von Obdachlosigkeit bedroht. Aufgrund einer Gesetzesänderung von 2019 müssen Geflüchtete innerhalb eines Monats, nachdem sie eine positive Asylentscheidung bekommen haben, eine eigene Unterkunft finden. Früher hatten sie dafür sechs Monate Zeit.
Ein paar Tage später wurden erneut 30 Personen vom Platia Viktoria mit dem Bus in ein Flüchtlingslager im Norden Griechenlands an der Grenze zu Bulgarien verbracht. Sie weigerten sich jedoch, aus dem Bus zu steigen und konnten den Busfahrer aus eigener Tasche bezahlen, damit er sie nach Thessaloniki brachte. Dort stiegen die, die es sich leisten konnten, in den nächsten Zug nach Athen, zum Platia Viktoria. So ging es über Wochen hinweg: Die Menschen werden einfach hin- und herverfrachtet ohne ihre Einwilligung, ohne irgendwelche Informationen darüber, was gerade geschieht, und ohne dass sich um sie gekümmert wird. Sie werden einfach von einem Lager ins nächste gezwungen, ohne irgendwo geduldet zu sein.
Die Situation eskaliert
Und schon in der ersten Juliwoche waren es wieder rund 120 Menschen, die am Platia Viktoria schliefen, ganze Familien mit ihrem gesamten Gepäck, manche über Wochen hinweg. Am Samstag, dem 4. Juli, eskalierte die Polizei die Situation. Mehrere Polizeieinheiten, teilweise auf Motorrädern oder Undercover, kamen gegen 23 Uhr an – ohne Übersetzer*innen oder Repräsentant*innen anderer Institutionen – und fingen sofort an, Geflüchtete in Busse zu verfrachten. Zu der Zeit waren etwa 40 Unterstützer*innen anwesend. Geflüchtete und Unterstützer*innen versammelten sich in einer Ecke des Platzes und versuchten sich zu verteidigen. Viele wurden zusammengeschlagen und verletzt, 23 Personen wurden verhaftet und auf die Polizeistation gebracht – unter ihnen auch eine geflüchtete Frau. Gerade laufen noch Verfahren gegen vier Personen wegen Widerstands gegen die Festnahme und die Polizei. Am Sonntag, den 5. Juli, änderte die Polizei die Strategie, sie brachte Übersetzer*innen und Sozialarbeiter*innen mit, bot den Geflüchteten eine sichere Unterkunft in einem Flüchtlingslager und versprach, dass sich dort um ihren Papierkram gekümmert würde. Die Geflüchteten willigten ein. Platia Viktoria blieb genau für einen Tag leer, dann kamen neue Geflüchtete aus Moria. Und immer noch kommen täglich mehr, manche kommen wieder. Viktoria war die Heimat von tausenden Refugees. Und auch wenn die Polizei gerade keine direkte physische Gewalt gegen Geflüchtete und Unterstützer*innen anwendet: Die konstanten Kontrollen gehen weiter und immer noch leben viele wohnungslose Geflüchtete auf Platia Viktoria.
Für weitere Informationen siehe die Social Media Auftritte von Gruppen wie Not leaving my home, oder Viktoria Solidarity