War mein*e Kindheitsheld*in nur ein heteronormatives Klischee?!
Beim „Rewatching“ von Die wilden Kerle 2 enttarnte sich ein heiß geliebter Kinderfilm als verrückte Aneinanderreihung heteronormativer Klischees. Natürlich könnte ein Auge zugedrückt werden, da der Film 2005 in die Kinos kam, also prä-me-too, und da war ja noch alles ganz anders, und das andere Auge, da der Drehbuchautor und Regisseur Joachim Masannek nach eigenen Angaben erst neun Tage vor Abgabetermin zu schreiben begann. Mit zwei geschlossenen Augen wäre das klischeebeladene und -belastete Bildmaterial zu ertragen, aber die Ohren lassen sich nicht trügen: Jede Aussage, jeder Satz ist ein Klischee, ein weiterer Baustein, der das Patriachat als Norm in den Boden der Kinderseelchen drückt.
Von Männern und Mädchen
Die Handlung von Die Wilden Kerle 2 lässt sich auf eine „Dreiecksbeziehung“ kürzen: Die cis-männlichen Alphas zweier verfeindeter Banden kämpfen komplett „mad“ – wie könnte es anders sein – um das Mädchen.
Vanessa, die später Umkämpfte, gehört der Fußballmannschaft Die Wilden Kerle (WK) an und wird in der ersten Szene nach Leon, dem Captain, an zweiter Stelle als „Die Unerschrockene war der Beste von Allen beim Extratorschießen“ vorgestellt. Es folgt eine Bild, wo die Wilden Kerle an den Zaun pinkeln und Vanessa, genau wie die Kerle breitbeinig dasteht. Der Sprecher, ebenfalls Teil der WK, korrigiert sich und sagt: „Oh, ich meinte natürlich DIE Beste, aber wir hatten vergessen, dass sie ein Mädchen war und sie? Sie hatte es auch! Sie war der wildeste aller Kerle!“
Gleich in den ersten zwei Minuten werden mehrere Punkte abgehakt: Vanessa, die aus der Sicht eines männlichen Protagonisten vorgestellt wird, erfährt mit „Sie war DER beste von allen“ eine Vermännlichung. Direkt daraufhin wird ihr Mädchen-Sein durch das Vergessen davon thematisiert. Vanessa, ein cis-weiblicher Charakter, übernimmt TYPische männliche Eigenschaften (bildlich gelb unterstrichen durch die cis-männlichste Aktion überhaupt: das Im-Stehen-Pissen) und das wird abgefeiert wie sonst was. Der Vorsteller verwendet mit „Sie war der wildeste Kerl von Allen!“ nun bewusst den generischen Maskulin, obwohl er sich zuvor dafür entschuldigte. Vanessa erlebt so eine Statuserhöhung, die auch durch Redewendungen wie „Sie ist ein ganzer Kerl“ für Frauen eine Statuserhöhung bedeuten.
Krasse Typen
Wir befinden uns immer noch bei Minute zwei, aber genau so wild geht es weiter. Im Vergleich dazu die Einführung des Wilde-Kerle-Captains Leon: Er wird als der „wildeste Torjäger aller Zeiten“, der „die Tore immer ins Netz bekam“ vorgestellt. Leon schießt ein Tor bei einem Fußballmatch und läuft anschließend – ganz dem Starkult entsprechend – eine Runde am Feld, während das Publikum und die WK gemeinsam „Leon! Leon! Leon!“ rufen.
Der zweite Alpha und Antagonist wird ebenfalls sehr übe rspitzt eingeführt: Gonzo Gonzales (also überspitz war mein neun-jähriges-Ich bei dem Namensklang auf jeden Fall und natürlich peinlich berührt) springt von gefühlt zehn Meter Höhe auf seinem Skateboard, gefolgt von seiner dämlich dargestellten Skater*innengruppe, in die Menge eisschleckender WK. Gonzo Gonzales: „Netter Empfang, aber wir wollen ein Eis essen, Kinder. Also husch husch! Oder soll ich sexy James (Mädchen) bitten, dass sie euch alle küsst?“ – WK: „Geh kotz und bäh!!“ Sexy James verlässt nun katzenartig ihre Position zur Linken von Gonzo und steuert auf einen WK zu. Sie kommt ihm sehr nah, so dass dieser, auf ihre Drohungen geküsst zu werden, eingeschüchtert rückwärts geht und in einen Sessel fällt.
Gonzo Gonzales verdeutlicht seine Chefposition durch Macht und Gehorsam, außerdem lässt diese Szene gut das von ihm transportierte Frauenbild durchscheinen. Gonzo Gonzales kommandiert „sexy James“ – ein Spitzname, der besonders für eine 13-Jährige schwer zu hinterfragen ist – herum. Er, der männliche Alpha, hat Handhabe über ihre Taten. Sie gehorcht und wendet die scheinbar einzige Waffe an, die ihr als Mädchen zu Verfügung steht: Küssen. Sexy James handelt also nicht nach ihrem eigenen Empfinden, sondern nach dem eines männlichen Vorgesetzten, der sie dazu bringt, ihren Körper, über den er zu Verfügen scheint, einzusetzen. Mit dem Adjektiv sexy wird James schon im Namen reduziert.
Das perfekte Match
Gonzo kommt mit Eis in der Hand zurück und mustert Vanessa in ihrem weißen Erstkommunionskleid („Mhmm, Katholiken-chic!“, dachte sich der 15-jährige Skater-Bub) von oben bis unten, da sie ihm zuvor niemals in ihrem Fußballgewand aufgefallen ist. Message: Hey Kinder, es ist normal auf Äußerlichkeiten zu reduzieren beziehungsweise darauf reduziert zu werden und es wird fix nie wer auf dich stehen, wenn du so wie du bist bist, gell? Er springt nun zu Vanessa, umkreist sie, kommt ihr nah, schaut sie von hinten aus an, richtet sich und sagt: „Wie konnte ich dich bisher nur übersehen? Darf ich mich vorstellen?“ Eine rhetorische Frage oder zumindest ein lautes Denken, da er direkt über ihre Haare streicht und sich vorstellt. Vanessa bleibt bis auf „Das ist ein schöner Name“ in der gesamten Sequenz stumm und selbst diese Aussage ist ein Kompliment.
Gonzo Gonzales Handeln vermittelt den Zuseher*innen also, dass es romantisch ist, wenn sich Akteur*innen, vor allem männliche, nehmen, was sie wollen. Die Protagonistin wird vom Protagonisten objektiviert. Gonzo: „Ach, was du nicht sagst. Hier! (Hält ihr das Eis hin) Willst du mal lecken? Das ist transsilvanisches Gift.“ Vanessa leckt langsam an dem Eis und Gonzo entfernt sich aus der Situation, dabei ruft er seine Gefolgschaft zusammen.
Und genau so geht es 89 Minuten weiter: Vanessa geht zu den Skater*innen und Gonzo verbietet ihr die WK jemals wiederzusehen. Leon checkt, dass er Vanessa auch mag, Gonzo verbietet Vanessa das Fußballspielen, die WK schreiben ihr einen Liebesbrief, weil sie sie für ein „perfect match“ brauchen und Mädchen ja auf Gefühlzeug stehen. Vanessa will zurück, Gonzo lässt sie nicht, da er weiterhin seine Männlichkeit beweisen muss und Leon schreit und stapft wütend durchs Bild. Und dazwischen erträgt Vanessa andächtig, in TYPischer Weiblichkeit Monologe der beiden. Würg, kotz und bäh!
Auch wenn es nach dem Lesen der letzten Zeilen nicht nach einer Empfehlung klingt: Um die üble Wurzel aus den Kindheitserinnerungen zu graben, muss der Film mit kritischen Augen betrachtet werden. Also, konfrontiert euch! Aber bitte verhindert das bei den Kindern in eurem Umfeld. Schaut in deren Bücherschränke: Wie viele Held*innen finden da drinnen ihr Plätzchen? Wie viel Regenbogen kannst du neben dem Regenbogenfisch noch erkennen? Heißen die Charaktere immer nur Max, Franz, Moritz, oder ist auch eine Esra und ein Muhammad dabei, vielleicht sogar als Hauptcharakter? Wie viel Kitsch und Klischee verformt den Charakter der Kleinen? Fragen über Fragen, aber alles ist gut, solange du dich informierst, bevor du irgendeinen in neun Tagen rausgefetzten Schund verschenkst. Filter doch ein wenig für die, die noch am wenigsten filtern können und alles wie kleine Spongebobschwämme in ihre Köpfe aufsaugen.