MALMOE im Interview mit Jana Ciernioch, Politische Referentin bei SOS Méditerranée Deutschland
MALMOE: Kannst du dich und deine Arbeit bitte kurz vorstellen, was sind derzeit deine Aufgaben bei SOS Méditerranée?
Jana Ciernioch: Ursprünglich bin ich Migrationswissenschaftlerin, war ehrenamtlich in der globalisierungskritischen Bewegung in Deutschland und in der Bewegung gegen Abschiebehaft in Großbritannien aktiv, bevor ich 2016 zu SOS Méditerranée gekommen bin. Dort habe ich die ersten Jahre die Kommunikation von Berlin aus aufgebaut und koordiniert, seit knapp zwei Jahren bin ich für die politische Arbeit zuständig. Das heißt, ich behalte die aktuellen politischen Entwicklungen rund um das Thema Migration und Seenotrettung im Blick, stehe im Austausch mit politischen Entscheidungsträger*innen in Deutschland und der EU und vertrete auf öffentlichen Veranstaltungen die Seenotrettung, um auf die Lage vor Ort und den Handlungsdruck aufmerksam zu machen. Auf diese Weise setzen wir uns konkret für die kompromisslose Rettung von Menschen aus Seenot ein – egal, woher sie kommen, egal, wohin sie gehen. Darüber hinaus begleite ich auch regelmäßig unseren Einsatz an Bord unseres Schiffes im Mittelmeer.
Wie hat sich SOS Méditerranée entwickelt und mit welchen Schwierigkeiten habt ihr zu kämpfen?
SOS Méditerranée hat sich 2015 vor dem Sommer der Migration auf Initiative eines deutschen Kapitäns und einer französischen Expertin für humanitäre Fragen gegründet. Die Idee: Niemand darf auf See sterben und wenn die EU-Staaten ihrer gesetzlichen und moralischen Pflicht zur Seenotrettung nicht nachkommen, dann muss die europäische Zivilgesellschaft das selbst in die Hand nehmen und das Recht auf Leben an den EU-Außengrenzen verteidigen. Weil wir nicht dabei zusehen wollten, wie man im Mittelmeer Menschen ertrinken lässt, haben wir eine Crowdfunding-Kampagne gestartet, so innerhalb weniger Wochen eine halbe Million Euro gesammelt und schließlich unser erstes Schiff gechartert, die Aquarius. Seit Einsatzbeginn im Frühjahr 2016 konnten wir so bis heute 31.799 Menschen vor dem Ertrinken bewahren und in Sicherheit bringen.
SOS Méditerranée war von Beginn an eine transnationale Initiative mit Unterstützer*innen in ganz Europa. Inzwischen arbeiten wir mit Teams in Deutschland, Frankreich, Italien und der Schweiz und betreiben so ein gemeinsames Rettungsschiff, aktuell ist das die Ocean Viking. Finanziert werden unsere Organisation und das Schiff komplett durch Spenden.
Obwohl ohne unseren Einsatz tausende Menschen gestorben wären, wird unsere Arbeit seit 2017 zunehmend von einzelnen EU-Staaten behindert. Wegen der Angriffe auf unsere Arbeit von behördlichen Schikanen bis zu strafrechtlicher Verfolgung unseres medizinischen Partners Ärzte ohne Grenzen mussten wir 2018 sogar unseren Einsatz für ein halbes Jahr unterbrechen. Auf politischen Druck der damaligen italienischen Regierung hin wurde uns zweimal die Flagge entzogen und wir mussten unser erstes Schiff, die Aquarius, an den Eigner zurückgeben. Doch wir sind nicht die Einzigen. Seit 2017 mussten alle zivilen Seenotrettungsorganisationen ihren Einsatz zwischenzeitlich oder ganz einstellen. Stück für Stück soll die Zivilgesellschaft vom Meer gedrängt werden. Auch derzeit wird unser Schiff, die Ocean Viking, wieder unter fadenscheinigen Begründungen in Italien festgehalten und wir werden so am Retten gehindert.
Wie ist die Lage im Mittelmeer im Herbst 2020?
Die Lage im Mittelmeer vor der libyschen Küste hat sich weiter zugespitzt. Während der Bürgerkrieg und die massiven Menschenrechtsverletzungen in Libyen in den Internierungslagern weiter Menschen zur lebensgefährlichen Flucht über das Mittelmeer zwingt, versucht die EU mit allen Mitteln, die Ankünfte in Europa zu verhindern. Und das auf Kosten von Menschenleben. Aus der Seenotrettung hat sich die EU inzwischen fast komplett zurückgezogen. Anstatt selbst zu retten, befähigt sie mittels Ausbildung und finanzieller Unterstützung gezielt die libysche Küstenwache, Flüchtende auf hoher See abzufangen und völkerrechtswidrig nach Libyen zurückzuzwingen. In unserem Bericht Völkerrecht über Bord (1), der im Sommer veröffentlicht wurde, haben wir anhand eigener Einsatzdaten dokumentiert, wie die libysche Küstenwache trotz ihrer formalen Zuständigkeit ihre Aufgaben als Leitstelle bei der Seenotrettung kaum wahrnimmt und infolgedessen Rettungen verzögert und Menschenleben gefährdet werden. Seit nunmehr fünf Jahren sind unsere Teams vor Ort Zeug*innen des unvorstellbaren menschlichen Preises, der für die Politik des Abfangens und Festhaltens von Flüchtenden gezahlt wird. Sie sehen jeden Tag, wie im Mittelmeer das Völkerrecht über Bord geht.
Durch die Pandemie hat sich die Lage im Mittelmeer noch einmal verschärft: Einzelne Staaten haben die öffentliche Gesundheit zum Vorwand genommen, die Seenotrettung weiter zu beschneiden und die EU-Küstenstaaten haben faktisch ihre Häfen geschlossen. Es ist unbestritten, dass alle Staaten in Europa und weltweit angesichts der Pandemie vor ungekannten Herausforderungen stehen, insbesondere Italien. Aber Menschenrechte gelten nun mal auch in Krisenzeiten! Die geschlossenen Häfen haben dazu geführt, dass SOS Méditerranée und andere Organisationen den Rettungseinsatz vorübergehend einstellen mussten. Ab Juni sind wir wieder in den Einsatz gefahren und konnten 181 Menschen vor dem Ertrinken bewahren. Aber die Situation an Bord war während der elftägigen Wartezeit auf einen sicheren Hafen sehr angespannt. Menschen sprangen über Bord und drohten an, sich das Leben zu nehmen. Der Kapitän musste schließlich den Notstand ausrufen. Das haben wir so in unserer fünfjährigen Geschichte noch nicht erlebt. Wir vermuten, dass die strengen Hygienemaßnahmen an Bord und die „Vermummung“ unserer Teams auch hierzu beigetragen haben. Alle Geretteten, nicht nur die der Ocean Viking, mussten seit Ausbruch der Pandemie statt an Land gleich wieder für mindestens zwei Wochen auf ein Quarantäneschiff. Dass diese Menschen nach den traumatischen Erlebnissen in Libyen und während der Flucht über das Meer nicht an einen sicheren Ort an Land können, ist eine große zusätzliche Belastung.
Wie hat sich der Brand in Moria auf eure Arbeit ausgewirkt? Wie beurteilst du die Haltung der EU und im Speziellen Deutschlands und Österreichs diesbezüglich?
Der Brand in Moria hatte zwar keine direkten Auswirkungen auf unsere Arbeit im Mittelmeer, aber er hat der Welt einmal mehr vor Augen geführt, dass ein ganzer Kontinent sein Gewissen verliert. Auf dem Mittelmeer erleben unsere Teams seit Jahren hautnah, wie am Rande Europas mit den Leben von Menschen ein Exempel der Abschreckung statuiert wird. Ein Exempel der konsequenten Nichtzuständigkeit, des Wegschauens und des Abschiebens von Verantwortung. Die Menschen sollen aus dem Sichtfeld der europäischen Gesellschaft verschwinden.
Viele EU-Staaten reden sich, was die schnelle Aufnahme von Schutzsuchenden angeht, gerne mit dem Verweis auf eine nötige gemeinsame europäische Lösung heraus. Die wird es aber in absehbarer Zeit nicht geben. Auch nicht mit dem neuen EU-Migrationspakt. Wir haben in den letzten Jahren gesehen, wie zerstritten die EU bei der Frage der Aufnahme von Geflüchteten ist. Deswegen funktioniert es nur, wenn einzelne Staaten vorangehen und quasi eine „Koalition der Aufnahmebereiten“ bilden. Die deutsche Bundesregierung hat im Fall der Seenotrettung durchaus Aufnahmebereitschaft gezeigt und vergangenen Herbst gemeinsam mit Italien, Malta und Frankreich einen Verteilungsmechanismus für aus Seenot gerettete Menschen auf den Weg gebracht. Deutschland hat sich darüber hinaus substantiell an der Aufnahme von Überlebenden beteiligt. Das war ein wichtiges Signal, aber diese Bemühungen dürfen hier nicht aufhören und wir erwarten, dass sich die deutsche Bundesregierung auch im Rahmen ihrer aktuellen EU-Ratspräsidentschaft konsequent für die Rettung von Menschenleben auf See und eine solidarische Aufnahmeregelung einsetzt.
Wie beurteilst du den EU-Migrationspakt und welche Konsequenzen ergeben sich daraus für SOS Méditerranée und die Situation von Geflüchteten im Mittelmeerraum?
Der Pakt hat einmal mehr gezeigt, dass Europa die Menschlichkeit abhandengekommen ist. Anstatt des versprochenen Neubeginns schreibt der Pakt die Politik von Abschottung und Abschreckung der vergangenen Jahre fort. Eine Lösung für die humanitäre Katastrophe im zentralen Mittelmeer, wo allein im August laut der Internationalen Organisation für Migration wieder 108 Menschen auf der Flucht gestorben sind, bietet dieser Migrationspakt nicht. Die Vorschläge bringen keine kurzfristige Hilfe für die Menschen, die weiterhin der Gewalt in den libyschen Lagern über die tödlichste Fluchtroute der Welt zu entkommen versuchen. Die EU-Kommission hat klargemacht: Seenotrettung ist nicht verhandelbar. Das ist ein wichtiges Zeichen, aber wenn es ihr wirklich ernst damit ist, dann müsste es jetzt darum gehen, so schnell wie möglich ein gemeinsames Seenotrettungsprogramm aufs Wasser zu bekommen.
Der Pakt sieht auf der einen Seite zwar vor, dass die Kriminalisierung ziviler Seenotretter*innen beendet werden soll, was natürlich ein wichtiges Signal ist. Wir befürchten aber die fortgesetzte Blockierung der NGO-Schiffe unter technischen Vorwänden – in Zukunft koordiniert von der EU. Wir vermissen eine Absichtserklärung, dass die Finanzierung und der Aufbau der libyschen Küstenwache in Zukunft eingestellt werden, wenn diese sich weiterhin nicht an geltendes Recht hält. Es ist nicht hinnehmbar, dass die libysche Küstenwache weiterhin völkerrechtswidrig flüchtende Menschen in die Lager zurückzwingt und ihrer Rettungsaufgabe häufig nicht nachkommt – und dass dies mit über 50 Millionen Euro europäischer Steuergelder ermöglicht wird. Wie viel Leid in den libyschen Lagern und wie viele Tote im Mittelmeer braucht es noch, bis man in Brüssel begreift, dass es mit Abschreckung und Abschottung nicht funktioniert?
Was bleibt zu tun?
Einiges. Der Versuch der EU, den zivilgesellschaftlichen Handlungsspielraum massiv einzuschränken – nicht nur im Mittelmeer –, zeigt, dass es eine starke Zivilgesellschaft braucht, die sich dem organisierten Rechtsbruch an den EU-Außengrenzen mit lauter Stimme entgegenstellt. Wir haben in Deutschland und Österreich in den vergangenen zwei Jahren mit der Seebrücke-Bewegung gesehen, wie zivilgesellschaftlicher Druck von der Straße Bewegung in Parlamente und gesellschaftliche Diskurse bringt. Diese Sichtbarkeit ist wichtig, wenn immer mehr zivilgesellschaftliche Initiativen von behördlichen Schikanen, strafrechtlicher Verfolgung oder dem Entzug der Gemeinnützigkeit bedroht sind.