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Jon Rafman: Erysichthon

Videokunst und Post-Internetkunst – offenbaren sich hier die Abgründe der visuellen Gegenwartskultur? „And what can you do with the void, except going into it?“

Dass das Internet ein dunkler Ort ist, an dem sich allerlei digitale Kreaturen tummeln, die früher nur in apokalyptischen Sagen ihr Unwesen getrieben haben, ist nicht neu. Jon Rafman ist ein wahrer Archäologe des Cyberspace, der Schicht für Schicht Datenfriedhöfe aushebt, Reddit-Zombies sammelt und aus ihnen erschreckend präzise Gegenwartsdiagnosen erstellt. Mit Erysichthon schloss er 2015 seine Trilogie über das Dark Web ab, davor erschienen Mainsqueeze (2014) und Still Life (Betamale) (2013). Erysichthon, der antike griechische König von Thessalien, war unersättlich. Bestraft von den Göttern für das unumsichtige Fällen einer heiligen Eiche der Demeter, die von einer Dyrade bewohnt wurde, verschlang der König, getrieben von einem unersättlichen Hunger, fortan alles und jeden, dessen er habhaft werden konnte. (Das unnachhaltige Abbrennen oder Schlagen von Wald durch herrschsüchtige Männer scheint demnach bereits in der Antike ein kontroverses Thema gewesen zu sein.) Der Mythos endet tragisch, denn Erysichthon frisst zuletzt sich selbst.

Sich selbst verschlucken

Unendliche Unersättlichkeit, Dauerkonsum mit minimaler Feedbackschleife, Hyperattention und die damit verbundene, langsame Auflösung der Grenzen des realen, physischen Ich sind die Parallelen, mit denen Rafman in seinen Arbeiten Brücken in die Gegenwart schlägt. Durchdrungen vom Primat des Visuellen, verflochten mit der permanenten digitalen Resonanz von ihren digitalen Aktivitäten werden auch die User*innen nach und nach zum Futter ihrer digitalen Identität, die neben Daten zunehmend mehr und mehr reale Lebenszeit vertilgt. Das Internet ist ein Paradoxon, denn es gibt und nimmt zugleich. Es frisst Daten, Träume und Visionen, zerlegt sie seelenlos in Nullen und Einsen, fordert permanent Ressourcen ein in Form von Zeit, Geld und Energie und verspricht im selben Ausmaß ein fast anarchisch anmutendes Terrain unbegrenzter Möglichkeiten. Es ist eine pervertierte, invertierte Version der materiellen Welt, in der die Hoffnung nach einem besseren, erfüllteren Leben (oder zumindest gelungenen Orgasmus oder Bananenbrot) regiert und die sich selbst erschafft aus dem gesellschaftlich verbotenen Verlangen, das sich konsequent in der inzwischen zweiten Wirklichkeit realisiert.

Paradox sind auch die Bilder und Snippets, die Rafman collagiert. Bilder von Bildern, ein Schauen auf das Schauen, endlose Loops und geschichtete Bildebenen. In typischer Post-Internetkunst-Manier verklärt er die Grenzen zwischen dem schauenden Subjekt und dem Betrachteten. Er durchbricht Blickachsen in die Unendlichkeit des Äthers, indem er auch die materiellen technischen Voraussetzungen für dessen Existenz zeigt wie die gigantischen, stromfressenden Serveranlagen oder die allen Bildern zugrunde liegenden Gitter und Koordinatensysteme einblendet. Die Vektoren des Betrachtens werden permanent neu ausgerichtet, die Normalisierung der Wirklichkeit des digitalen Bildes entpuppt sich als bitterer Rebound der eigenen Ressourcen. Im Internet ist nichts for free.

Ist es alles Kuchen?

Während in den vergangenen Monaten des Lockdowns das Bananenbrot zum viralen Internet-Mega-Star avanciert, folgt nun der Winter des stinkenden, fermentierten Zeugs. Bananenbrot und Fermentiertes sind die neuen Sinnbilder von Sicherheit, Verlässlichkeit und Nachhaltigkeit. Gammeliges wird einfach zermatscht oder noch gammliger und dann ein Hit. Werden unsere Arbeitsplätze noch existieren nächstes Frühjahr? Wir wissen es nicht. Aber das Sauerkraut wird an unserer Seite sein und uns stinkend spüren lassen, dass wir noch lebendig sind. Da das Zurückgeworfensein auf die eigene, unzulängliche Körperlichkeit durch den Geruchssinn bereits äußerst intensiv ist, sind Videos über das Fermentieren weitaus beliebter als das Fermentieren selbst. Aktuell ein wichtiges Thema online: Dinge, die realistisch aussehen, aber eigentlich aus Kuchen bestehen. Eine teigige Metapher für Milliarden User*innen und Billionen Bytes, die unser Leben sind.

Die Arbeit ist dauerhaft zu sehen auf der Website des Künstlers: jonrafman.com