Los Santos als spätkapitalistisches Simulakrum
Das Videospiel ist in den letzten Jahren nicht nur zum umsatzstärksten Massenmedium geworden, sondern auch zum Ausgangspunkt einer damit arbeitenden, quasi parasitären Bildproduktion. User schleusen ihre eigenen Inhalte in verschiedenen Formen ins Spiel – am häufigsten durch Gameplay-Streams, wie zum Beispiel sogenannten Let’s Plays. Machinimas – also Filme, die in Videospielen gedreht wurden – folgen hingegen einer spezifischen erzählerischen Struktur. Die meisten von ihnen verwenden das vorhandene Gameplay, um Geschichten zu generieren, von denen viele nicht in den Erzählungen der Spiele selbst begründet sind.
Ein Spiel, das vor allem bei Machinima-Künstler_innen auf besonderes Interesse stieß, ist Grand Theft Auto V (2013) von Rockstar Studio, das laut der Spieleplattform IGN mit 135 Millionen verkauften Exemplaren nach Minecraft auf Platz zwei der meistverkauften Videospiele rangiert. Es stellt aller Wahrscheinlichkeit nach auch das erfolgreichste Ingame-Filmstudio für Streamer_innen, Machinima-Schöpfer_innen oder Spielekünstler_Innen dar, das sich bis heute großer Beliebtheit erfreut. Dass es derart viele Filmschaffende in GTA Vs fiktive Stadt Los Santos zieht, lässt sich aus einer ganzen Reihe von Gründen erklären. In diesem Artikel wollen wir einen davon im Besonderen unter die Lupe nehmen: den Hyperrealismus. Es gilt also, die politischen Landschaften von Videospielen im glitzernden Spiegelkabinett des Hyperrealismus-Begriffs zu reflektieren und die Frage zu stellen, welche Bedeutung der Hyperrealismus für das Medium im Allgemeinen trägt. Eugen Pfister sieht in Videospielen in der Logik der Diskursanalyse nicht nur ein Abbild der Wirklichkeit, als vielmehr ein Bestandteil ihrer Konstruktion. Für ihn sind sie „in erster Linie ein perfekter Indikator für dominierende politische und kulturelle Diskurse“. Die Rolle für ein Verständnis unserer Zeit nehmen darüber explizit jene Spiele ein, die den Hyperrealismus als solches nicht nur darstellen, sondern eben auch brechen. Denn, mit Marshall McLuhan gesprochen: „[Massenmedien] nehmen aktiv an der Gestaltung unserer sozialen Realität Teil. Was wir auch immer über die Gesellschaft oder die Welt in der wir leben wissen, wissen wir durch die Massenmedien.“ Das visuelle Regime als Begriff
Das visuelle Regime als Begriff
Im Bereich der Kunst beschreibt der Hyperrealismus ein Genre der Malerei und Bildhauerei, dessen Ziel es ist, Werke zu schaffen, die die Präzision hochauflösender Fotografien nachahmen. Im Gegensatz zum Fotorealismus versucht der Hyperrealismus dabei jedoch, über die bloße Darstellung des Realen hinauszugehen und Illusionen zu erschaffen, die noch realer erscheinen als die Wirklichkeit. Jean Baudrillard entzieht dem Begriff seine nachahmende Qualität und beschreibt ihn als „die Simulation von etwas, das nie wirklich existierte“.
Hyperrealistische Bilder erscheinen typischerweise wie wirklichkeitsgetreue Darstellungen der Realität, die jedoch zu perfekt sind, um tatsächlich real zu sein. Selektiv werden Charakteristika verstärkt, um die dargestellten Objekte zu mehr zu machen, als sie ursprünglich waren. In gewisser Weise könnte man sagen, dass der Hyperrealismus versucht, nicht die Realität eines bestimmten Objekts abzubilden, sondern vielmehr seine Idee. Der Hyperrealismus stellt archetypische Ideen als Realität dar und schafft es so, unserem Wirklichkeitsbegriff noch mehr zu entsprechen als die Realität selbst. Nach dieser Vorstellung könnte man zugespitzt fragen, ob nicht der Hyperrealismus eine visuelle Ordnung der Wirklichkeit formt.
In der Semiotik und der Theorie der Postmoderne konstituiert sich der Hyperrealismus durch das Fehlen einer klaren Trennung zwischen dem Realen und dem Simulierten.
Diese Vorstellung deutet auf die besondere Beziehung zwischen Hyperrealismus und Kapitalismus in seiner derzeitigen Ausformung hin. Ist der Hyperrealismus als Begriff nicht das geeignete Spinnrad, um die Träume konsumistischer Mythologie zu weben? Nicht nur überführt der Hyperrealismus Objekte zurück zur perfekten Idee ihrer selbst und verformt die Wirklichkeit zu einem Fetisch ihrer selbst – er schwindelt uns gleichzeitig vor, dass wir es immer noch mit realen Objekten zu tun haben. Gewissermaßen besteht genau darin das Konzept zeitgenössischer Marketingfotografie und -videoästhetik: Ein Objekt, das aus Verdichtung kapitalistischer Mythologie entsteht, wird als Realität vermittelt. Das macht den Hyperrealismus zum Türöffner des Konsumismus, der uns nahelegt, hyperreale Idole zu adaptieren und die Erfüllung durch Simulakren zu suchen. Jean Baudrillard charakterisierte das Simulakrum als ein Zeichen, das nicht mehr auf seinen Referenten, sondern auf sich selbst verweist und sich so vom Referenten emanzipiert. Dies lässt sich im Kontext des Konsumismus leicht veranschaulichen: Die Werte, die wir unseren Produkten zuschreiben, liegen diesen nur in wenigen Fällen intrinsisch inne, doch ihre Mythologie ist ein derart konsistenter Bestandteil unserer Kommunikation, dass sie sich als Referenz selbst genügt, Wertvorstellungen zu begründen.
Zurück zum Thema: Videospiele sind hyperrealistische Räume voller Simulakren. Im Fall von GTA V ist dieser Hyperrealismus zweifach: Wie in vielen zeitgenössischen Spielen ist er im visuellen Sinne präsent – jeder Sonnenuntergang in GTA V ist der perfekte Sonnenuntergang – aber noch wichtiger: Er existiert auch im erzählerischen Sinne.
Das kapitalistische Paradoxon
In Grand Theft Auto V übernehmen die Spielenden die Kontrolle über drei Gangster aus unterschiedlichen sozialen Klassen: Ein junger Afroamerikaner aus der Halbwelt, ein psychotischer, alkoholkranker Hillbilly und ein neureicher Family Dad, der von seinem Alltag gelangweilt ist, schließen sich aus unterschiedlichen Gründen zusammen und unternehmen Raubüberfälle – um an Geld zu kommen, aus Zermürbung spätkapitalistischer Normalität oder der alten Zeiten willen. Sie plündern Banken und legen sich mit paramilitärischen Unternehmen sowie einem Mark-Zuckerberg-Lookalike an. All das trägt sich in der Stadt Los Santos zu, die durch eine abwechslungsreiche Naturlandschaft gerahmt wird. Bereits die Stadt selbst kann als hyperrealistisch bezeichnet werden. Sie ist kein bloßer Nachbau von Los Angeles, sondern eine Verdichtung von realen Referenten, die eine Kreation inspiriert haben, die sich – und hier sind wir wieder beim Simulakrum – mittlerweile selbst als Referent genügt. Der Spieler TreeFitty führt auf igta5.com 159 Beispiele von detailgetreu bis abstrakt nachempfundenen Bauten realer Architekturen aus Los Angeles an, die in Los Santos vorkommen. Doch als Zeichen verweist Los Santos nicht bloß auf Los Angeles, sondern ist selbst zur Quelle popkultureller Referenzen geworden.
Bedeutend für die gesellschaftspolitische Relevanz von GTA V ist auch, dass die Handlung in der Gegenwart spielt, wobei ein hyperrealistischer Ansatz zur Darstellung aktueller Phänomene verwendet wird: Die Straßen von Los Santos ertrinken in einem Meer von hupenden Autos, Obdachlose wühlen in Unterführungen in Müllcontainern, ein wohlhabender Psychotherapeut parkt seinen Sportwagen in der Einfahrt seines Strandapartments. Die Welt von GTA V ist keine Simulation der Realität, sondern eine hyperreale Stadt – eine Stadt der Ideen. Und die meisten dieser Ideen sind uns vertraut; es fällt uns leicht, in sie einzutauchen. Sie erwecken die Spielwelt durch zahllose kleine Erzählungen zum Leben, die sich gegenseitig überlagern und von denen viele als Verweise auf Werte und Probleme der realen Welt fungieren: Rassismus, Konsumverhalten, Korruption… Kapitalismus eben.
Und dann gibt es natürlich noch die eindeutig realweltlichen Referenzen an Leute wie Zuckerberg, Unternehmen wie das private Militärunternehmen Blackwater und den brutalen Zynismus hochrangiger Polizeibeamter, die dem Spiel seinen subversiven Charakter verleihen.
In einer Gratwanderung zwischen hyperrealistischer Darstellung und humorvoller Übertreibung gelingt es GTA V, eine subtile Kritik an den Werten zu üben, die seinen Geschichten zugrunde liegen: Das Spiel kann in diesem Sinne als eine Kapitalismuskritik verstanden werden. Der Künstler Alan Butler, der in Down and Out in Los Santos eine Reihe von Bildern präsentierte, die die Obdachlosen und die unteren Klassen der Stadt porträtierten, bemerkt Folgendes: „Die Auseinandersetzung mit einer korporativen virtuellen Realität wie der Welt von GTA V präsentierte eine Reihe interessanter Vorschläge. Das war in den Jahren 2014 bis 2016; da veränderte sich auch die Welt. Ich denke, dass die Art und Weise, wie die virtuelle Welt auszubrechen begann und in die ‚reale‘ Welt durchsickerte und sie vergiftete, eine populäre kritische Nutzung von Videospielsimulationen ermöglichte. In der post-truth-Welt nach Trump erscheint das Virtuelle als das Reale. Da leuchtet mir ein, dass ich tief in das Virtuelle gehen sollte, um das reale Moment zu finden. Videospiele wie GTA sind zu diesen quasi-marxistischen Kritiken der spätkapitalistischen Gesellschaft geworden; daher denke ich, dass sie perfekte Räume sind, um deren Ideen zu untersuchen.“
Gleichzeitig sind Spiele wie GTA V ein typisches kapitalistisches Paradoxon – mit anderen Worten: sowohl eine Kapitalismuskritik als auch ein Unterhaltungs- und Konsumprodukt und damit Teil der kapitalistischen Verwertungslogik. Als ein allumfassendes System lässt der Kapitalismus nichts außerhalb sich selbst zu. Dies hat zur Folge, dass selbst Kapitalismuskritik nicht nur toleriert wird, sondern vielmehr ein gewollter Teil der kapitalistischen Verwertungsschleife ist. Sowohl die Öko-Bewegung als auch die Kunstszene sind zwei prominente Beispiele dafür.
Spiegel und Matrize des Spätkapitalismus
Das zeitgenössische Setting und der hyperrealistische Charakter von GTA V bereiten einen fruchtbaren Boden für kritische Aneignung von Kunstschaffenden und der Community auf, wie es kein anderes Spiel in dieser Form geschafft hat. Dieser Artikel erscheint sieben Jahre nach der Veröffentlichung von Grand Theft Auto V, das bis zum heutigen Tag auf Filmfestivals und Ausstellungen immer noch regelmäßig etwa in Form von Machinimas anzutreffen ist. Der Hyperrealismus ist hier ausschlaggebend. Gleichzeitig ist er der Dreh- und Angelpunkt für die EntwicklerInnen, die im koketten Reigen mit ihm ironische Brüche in die Erzählung einbauen. Im Bewusstsein, mit einem Umsatz von sechs Milliarden Dollar eines der finanziell erfolgreichsten Spiele der Geschichte des Mediums zu sein, inhaliert es den Kapitalismus tief ein und repräsentiert dieser Art beinah die gesamte Videospielindustrie. Dennoch unterscheidet sich GTA V von anderen Hundert-Millionen-Dollar-Produktionen darin, dass es sich als überzeichnete Folie gesellschaftspolitisch kritisch exponiert.