Bianca Ludewig hat ihre Feldforschung zu Utopie und Apokalypse in der Popmusik in ein Buch gepackt
Das Cover gibt schon mal das Tempo vor – 200 BPM. Und, da geht noch mehr! So schnell liest sich das Buch dann allerdings doch nicht, was auch voll okay ist. Immerhin 300 Seiten hat Bianca Ludewig Musik und Szene rund um Gabber und Breakcore gewidmet. Ludewig hatte Teile des Buches bereits 2012 als Masterarbeit geschrieben, es wurde dann allerdings erst 2018 und dann in einer zweiten, nochmals aktualisierten Auflage 2019 in Wien verlegt. Keine Angst, Masterarbeit klingt schlimm, aber das Buch ist ziemlich gut. Schon die 30 Seiten Fotos, die Ludewig auf der Fuckparade geschossen hat, sind ein willkommener Anlass, um in Erinnerungen zu schwelgen.
Ludewigs Forschung konzentriert sich auf die Entwicklung von Gabber und Breakcore in den 2010er Jahren in Berlin. Die Autorin, wohl inzwischen selbst Teil der Szene, hat mitgefeiert und getanzt und kennt jede Menge Menschen, die noch tiefer drinstecken als sie selbst. Knapp 20 Interviews hat sie mit DJs und Producern geführt. Dass alle Interviewpartner männlich sind, wird in seinen Ursachen an mehreren Stellen kommentiert und auch auf die Interviewpartner selbst zurückgespiegelt. Zum Ausgleich werden weibliche* Aktivist*innen im Hardcore in einem Unterkapitel vorgestellt. Ludewigs Anspruch ist erfrischend entspannt – so will sie mit dem Buch dazu anregen, „zerstreutes translokales und -nationales Wissen zum Thema zusammenzutragen oder einfach über die eigenen Erfahrungen ins Gespräch zu kommen“. Selbstverständlich ist so ein Projekt notwendig begrenzt, das macht es im Umkehrschluss jedoch nicht weniger wichtig. Besonders die Betonung sonischer Elemente, also das was über den Hörsinn wahrgenommen wird, verdient Beachtung. Folglich hängt dem Buch eine Tabelle der einzelnen (Sub-)Genres an, die, wie auch sonst, über BPM charakterisiert werden. Die Tabelle reicht von Happy Hardcore (schlappe 160–180) bis zu Splittercore (unter 600 BPM geht gar nichts) und ist eine Herzkammer des Buchs. Jenseits des Genre-Dschungels definiert Ludewig den Begriff Hardcore als „sonische Grenzüberschreitung des bisher Bekannten oder Akzeptierten. Grafisch gesprochen: Bestimmte Parameter haben einen extremen Ausschlag nach unten oder oben“.
Die Frage, was das mit den Menschen macht, die sich solche Grenzüberschreitungen zumuten, ist der eigentlich interessante Punkt der Untersuchung. Hier lohnt es, der theoretischen Einführung zu folgen und die knappen Abschnitte zu Sonic Fiction, Black Atlantic und Cultural Hacking tatsächlich zu lesen, wenn nicht einfach nur Grenzen überschritten, sondern gemeinsam die bestehenden Grenzen hinterfragt werden sollen. Mit diesen drei Konzepten gelingt es Ludewig die Musik in einen größeren Zusammenhang einzubetten. Über die Sonic Fiction von Kodwo Eshun wird die Beziehung Mensch – Maschine (Plattenspieler, Mischpult, Soundsystem) als gleichberechtigt gedacht. Das von Paul Gilroy entwickelte Konzept des Black Atlantic rückt die historische Erfahrung der Versklavung in den Vordergrund und ermöglicht es, „den Horror der Vergangenheit in der Gegenwart durch Musik produktiv zu machen“. Cultural Hacking stellt den Versuch dar, das Bestehende auf seine Bruchstellen hin abzuklopfen und Möglichkeiten zu finden und Strategien zu entwickeln, die die Beschränkungen des Bestehenden überschreiten. Und den normativen Anspruch haben Gabber und Breakcore, ob in den Texten oder den politischen Forderungen der Fuckparade, die sich entschieden dem Friede, Freude, Ausverkauf der Loveparade verweigert. Es geht dabei nicht allein um die Musik oder eine politische Haltung der Akteur*innen, sondern auch um die Rezeption, die „Gefühle und Gedanken, die bei den Hörern [sic!] ausgelöst werden“. Gerade dieses Zusammenspiel von Musiker*innen und den von ihnen erzeugten Klängen, die auf die Körper der Hörer*innen treffen, nimmt Ludewig in den Blick. Die Beats und Breaks zerhacken eine ganze Tradition der Produktion und Rezeption von Musik, fressen sich durch Körper und Konventionen und stückeln die Splitter wieder kunstvoll aneinander. Neben dieser brachialen Seite hat der Vorgang allerdings auch eine explorative. So können gerade über Hacks bestehende Strukturen offengelegt und neue Möglichkeiten der Zusammensetzung angeboten werden. Vor allem auf der Ebene der musikalischen Praxis, aber eben auch in Bezug auf die Szene, also alles Menschliche zwischen Substanzen und Soundsystemen. „Von dieser sonischen Ebene aus werden weitere Aushandlungsfelder rund um Stadt und Raum erschlossen“. Denn, dass Musik urbane Freiräume braucht, gerade in Zeiten der Ökonomisierung und Gentrifizierung, das macht das Beispiel der Fuckparade anschaulich.
Bianca Ludewig (2019): Utopie und Apokalypse in der Popmusik. Gabber und Breakcore in Berlin. Verlag des Instituts für Europäische Ethnologie, Wien