Sorgen vor einer tatsächlichen Ausgangssperre und um ältere Angehörige bescheren mir im Lockdown metaphorische wie reale graue Haare. Viele Freund_innen erzählten ähnliche Geschichten, in denen meist Unverständnis mitschwang, warum es den Älteren nur so schwer beizubringen war, dass sie alltägliche Dinge wie den Einkauf von Lebensmitteln nun nicht mehr selbst erledigen sollen und niemand mehr zu Besuch kommt. In den ersten Wochen der Krise schien es kaum andere Handlungsoptionen zu geben, aber wie soll es im dauerhaften Krisenzustand jetzt weitergehen?
Ich erfahre später, dass in vielen Alten- und Pflegeheimen in Österreich die Bewohner_innen oft nicht nur das Grundstück, sondern sogar ihre Zimmer über viele Wochen hinweg nicht mehr verlassen durften. Eigene Besuchszellen wurden eingerichtet, über die die Bewohner_innen solcher Einrichtungen, durch eine Glasscheibe von ihrem Besuch getrennt, über das Telefon miteinander sprechen konnten. Während der Ausgangsbeschränkungen wurden ältere Menschen – oder eben jene, die augenscheinlich als zu alt wahrgenommen werden – angefeindet, wenn sie es wagten, für einen Spaziergang das Haus zu verlassen. Die kollektive Erfahrung des Lockdowns hat nicht automatisch mehr Empathie geweckt, oft aber zu Schuldzuweisungen geführt.
Als Beispiel für einen Umgang mit der Pandemie, der stärker auf Eigenverantwortung denn auf Verbote setzt, wird der schwedische „Sonderweg“ aufmerksam verfolgt. Eigenverantwortung, das klingt erstmal gut, hat dabei aber eine besonders ungute Komponente: persönliche Freiheiten einer Mehrheit der Bevölkerung können gewahrt bleiben, solange Ältere und andere Risikogruppen isoliert werden. Die österreichische Regierung setzte bekanntlich eher auf autoritäre Maßnahmen und starke Polizeipräsenz, denn auf Transparenz. Das ging so weit, dass in einer Informationskampagne des Österreichischen Integrationsfonds (ÖIF), die sich in verschiedenen Sprachen an Migrant_innen richtete, glatt „vergessen“ wurde darauf hinzuweisen, dass man das Haus auch verlassen durfte, um frische Luft zu schnappen, ohne dass dies strafbar wäre. Viele Linke übten Kritik an den autoritären Maßnahmen der Regierung, konzentrierten sich dabei aber zu sehr darauf, dass z. B. Straßenproteste nicht wie gewohnt stattfinden oder sie kein Bier in ihrem Stammbeisl trinken konnten.
Nachdem die Maßnahmen nun gelockert wurden, sind viele Menschen ohnehin überzeugt davon, dass diese übertrieben gewesen waren, während sie sich gleichzeitig für das gute Abschneiden im Länderranking der Ansteckungszahlen auf die Schulter klopfen und sich irgendwie stärker und widerstandsfähiger als die Menschen in besonders betroffenen Ländern fühlen.
Wie es anders gegangen wäre? Und wie es jetzt weitergehen soll? Sicher ist, dass eine gesellschaftliche Solidarität nicht einfach vorausgesetzt werden kann und diese grundsätzlich fragil ist. Daran erinnert uns z.B. aktuell die Diskussion über eine Erhöhung des Arbeitslosengeldes, in der auch die Befürworter_innen stets betonen, Unterstützung soll es für jene geben, die in der Krise „unverschuldet“ arbeitslos geworden sind.
Post-Lockdown, aber nicht Post-Corona, frage ich mich weiterhin, wie eine praktische, gesellschaftliche Solidarität aussehen könnte, die weder das „Recht des Stärkeren“ affirmiert, noch auf intransparente autoritäre Maßnahmen setzt. Wie Menschen geschützt werden, ihnen aber auch zugestanden und ermöglicht wird, informierte Entscheidungen zu treffen, wie sie mit ihrem persönlichen Risiko und ihren sozialen Kontakten umgehen wollen. Wenn nicht nur Risikogruppen identifiziert, sondern vermehrt auch über Abhängigkeitsverhältnisse und offen über zusätzlich benötigte Ressourcen im Pflege- und Gesundheitssystem diskutiert würde, wäre wohl viel gewonnen.