Charlotte Aitchison war am schnellsten. Als erster internationaler Popstar lieferte die als Charli XCX bekannte Britin am 15. Mai mit How I’m Feeling Now ein „Quarantäne-Album“. Während viele Veröffentlichungen größerer und kleinerer Acts verschoben wurden, hat Charli XCX die Isolation produktiv genutzt. Womit wir schon beim Thema wären: die Zeit zu nutzen, produktiv, kreativ, aktiv zu sein, war Credo im Lockdown. Nicht nur für manche Stars, sondern für nahezu alle. Scharenweise probierte man sich daran, Bananenbrot zu backen, Kellerabteile zu entrümpeln, Fotoalben zu sortieren. Es war ja endlich Zeit dafür. Und weil die Menschen mehr Zeit hatten, ward marktseitig im Nullkommanix ein immenses Angebot geschaffen, um diese bloß nicht zu vertrödeln. Seiten mit Titeln wie „10 Tipps, die Zeit zu Hause sinnvoll zu nutzen“ fluteten jeden Feed. Solch ein Tipp, auf den man sonst nie gekommen wäre, war beispielsweise ein „Telefonat mit Freunden“.
Großer Beliebtheit erfreute sich auch das Yoga. Wer nicht von mindestens drei Bekannten erfuhr: „Ich mache jetzt viel Yoga“, möge bitte aufzeigen. Apps und Channels für Yoga, Meditation und andere geistige und körperliche Ertüchtigung preisten Gratis-Abos für die Corona-Zeit an, die selbstlose Intention der Anbieter*innen wird freilich gewesen sein, in dieser schweren Zeit den Bedürftigen zu helfen …
Die Freude an Yoga, Kochen, Lesen oder auch Putzen soll niemandem miesgemacht werden. Konstatierbar ist dennoch, dass im Lockdown der Boom der Selbstoptimierung weitaus flächendeckender war als die Testungen auf Covid-19. Der Kern des Problems ist nicht, dass man sich selbst Gutes tun möchte, sondern dass sich in der Praxis der Selbstoptimierung ein Zwang zur Leistungserbringung verbirgt. Dabei ist der Grat zwischen dem neoliberalen Ansinnen, sich möglichst vieler bestens verwertbarer Individuen bedienen zu können, und dem eigenen nach körperlicher Gesundheit und geistiger Klarheit ein schmaler. Genau das ist der Trick: Sie werden ununterscheidbar. Äußeres und inneres Bedürfnis vermischen sich im Individuum. Und auch wenn man sich tunlichst gesellschaftskritisch wähnt – man kommt aus der Nummer nicht raus. Was entspricht noch dem eigenen Bedürfnis und wo fangen jene der Kulturindustrie und des antrainierten Dogmas „Alles an mir muss verwertbar sein“ an? Diese Frage sollte man nicht nur jenen stellen, die in den vergangenen Wochen angefangen haben, Chinesisch zu lernen.
Aber auch profanere neue Hobbys haben das Potenzial, mehr zu Stress denn zu Selbstzufriedenheit zu führen. Der Satz „Das muss ich heute noch erledigen!“ ist normalerweise mit dem Arbeitsleben verbunden. Indem jede Stunde der „Freizeit“ wiederum durch eine To-do-Liste mit Punkten wie „40 bis 60 Minuten Yoga“ strukturiert ist, baut man sich selbst Druck auf. Ein Gefühl des Scheiterns setzt ein, wenn man es einen Tag mal nicht auf die Matte geschafft hat.
Angenommen die Motivation für das Ausprobieren neuer Hobbys während des Lockdown ist tatsächlich intrinsisch. Heißt, die reine Muße an der Sache überwiegt den Zwang zur Verbesserung und Erweiterung des Selbst. Dann ergibt sich ein weiteres Problem: Warum bekommen wir es anscheinend nur im Corona-Ausnahmezustand hin, dass wir uns uns selbst und unseren Bedürfnissen ausreichend widmen? Warum hing die Broschüre fürs Yoga-Studio davor seit einem Dreivierteljahr vernachlässigt an der Pinnwand? Warum war der Germ im Kühlschrankeck seit zweieinhalb Jahren abgelaufen? Wir kennen die Antworten. Wir haben eine leise Ahnung, wer und was uns die Zeit stiehlt. Aber wir können es uns nur selten leisten, der Knechtschaft ein Bartleby’sches „I would prefer not to“ entgegenzusetzen – und uns stattdessen mehr zu verwöhnen. Sollte diese Erkenntnis ins kollektive Bewusstsein sickern und dort ein Quäntchen mehr Oppositionsgeist wecken, wäre dies ein dem coronösen Wahnsinn abgewonnener Fortschritt. Und nebst gesteigertem persönlichen Wohlbefinden gäbe es ja noch Größeres zu erreichen; wie hieß es kürzlich drüben auf Twitter so schön: „… it’s really cool how we all went from learning how to make banana bread to learning how to abolish the police in a matter of weeks“.