Über die Realität in Polen
Aus den politischen und medialen Debatten über das seit 1993 geltende restriktive Anti-Abtreibungsgesetz und den ständigen Versuchen es zu verschärfen, lässt sich nicht viel über die Realität der Abtreibung in Polen lernen. In den letzten drei Monaten fanden zwei solcher Debatten statt.
Anti-Abtreibungs-Debatte
Im April 2020 diskutierte das polnische Parlament inmitten des Lockdowns, der strengen Zugangsbeschränkungen zu medizinischer Versorgung, der Reisebeschränkungen und des wachsenden wirtschaftlichen Prekariats vieler im Land über eine Abtreibungsverschärfung. Im Falle einer Verabschiedung würde das Gesetz Schwangerschaftsabbrüche bei fötalen Anomalien verbieten, was – neben Fällen von Vergewaltigung und Gefahr für Leben und Gesundheit einer schwangeren Person – noch eine von drei Ausnahmen darstellt, in denen das Verfahren in Polen möglich ist. Tatsächlich machen Abbrüche bei Fehlbildungen des Fötus etwa 95% der Abtreibungen im Land aus, was einer Schätzung von tausend Eingriffen pro Jahr entspricht. Das Gesetz würde daher auf ein fast vollständiges Abtreibungsverbot hinauslaufen und weiter zur (bereits immensen) Stigmatisierung beitragen. Im April dieses Jahres wurde der Gesetzentwurf aufgrund von Protesten, die trotz ernsthafter Einschränkungen stattfanden, nicht verabschiedet, sondern zur Überprüfung an eine parlamentarische Kommission zurückgeschickt. Früher oder später wird er ins Parlament zurückkehren und neue Debatten und Proteste auslösen.
Alleingelassen durch fehlende Information
Die Entscheidung, den Zugang zu rechtlichen Verfahren dennoch weiter einzuschränken, wurde vom Parlament bereits im Mai 2020 getroffen. Bisher waren Ärzt*innen, die einen Schwangerschaftsabbruch aufgrund der Gewissensklausel ablehnten, d.h. unter Berufung auf religiöse oder moralische Überzeugungen, verpflichtet, die schwangere Person an eine andere Einrichtung oder medizinische Expert*innen zu verweisen, die bereit sind, den Eingriff vorzunehmen. Ein im vergangenen Monat verabschiedetes neues Gesetz erlaubt es jedoch, solche Informationen zurückzubehalten. Der Premierminister, der den Gesetzentwurf verfasst hat, riet Betroffenen, das Internet zu konsultieren, um nach Möglichkeiten zu suchen. Wenn er nur wüsste, dass jeden Tag, auch ohne seinen arroganten Rat, Hunderte von polnischen Frauen die Sache selbst in die Hand nehmen und Abtreibungen vornehmen lassen, unabhängig von den Medien und politischen Debatten und trotz der restriktiven Gesetze. Das ist die Realität der Abtreibung in Polen.
Transnationale Netzwerke der Unterstützung
Ich weiß das, weil ich selbst jeden Tag auf E-Mails, Facebook-Anfragen und Telefonanrufe von Menschen antworte, die nach der Möglichkeit eines Schwangerschaftsabbruchs im Nachbarland Deutschland fragen, das Schwangerschaftsabbrüche bis zur 14. Schwangerschaftswoche zulässt. Ich bin Aktivistin bei Ciocia Basia (Tante Barbara), einem informellen, in Berlin ansässigen feministischen Kollektiv, das Frauen in ungewollten Schwangerschaften den Zugang zu sicheren und legalen Verfahren im Land erleichtert. Wir informieren über Möglichkeiten des Abbruchs, vereinbaren Termine in den Kliniken, bieten Übersetzungsdienste an, vermitteln Unterkünfte in den Häusern der Freiwilligen und helfen finanziell. In den letzten fünf Jahren kamen praktisch jede Woche mehrere polnische Frauen nach Berlin, um Schwangerschaften abzubrechen, nachdem sie im Internet auf uns aufmerksam geworden sind. Ciocia Basia ist nur eine von vielen Abtreibungsunterstützungsgruppen dieser Art, die in Europa aktiv sind und Menschen aus Ländern, in denen ein Schwangerschaftsabbruch kaum möglich ist, Hilfe anbieten. In den Niederlanden ist ein Schwangerschaftsabbruch auf Wunsch bis zur 22. Woche möglich. Dort gibt es das Netzwerk Abortion Network Amsterdam. In Großbritannien ist ein Abbruch bis zur 24. Woche möglich. Die registrierte Wohltätigkeitsorganisation Abortion Support Network kann dort zur Anlaufstelle werden und bietet schnelle und professionelle Hilfe.
Im Dezember 2019 schlossen sich alle Gruppen mit den polnischen Kollektiven Kobiety w Sieci und Abortion Dream Team sowie dem medizinischen Online-Dienst Women Help Women zusammen, um die erste paneuropäische Initiative mit dem Namen Abtreibung ohne Grenzen zu bilden, die umfassend auf die Forderungen ungewollt Schwangerer in Polen und darüber hinaus eingeht.
Lockdown und was jetzt?
Wir empfehlen jenen in Polen, die ungewollt bis zur zwölften Woche schwanger sind, die Bestellung von Tabletten für einen medizinischen Schwangerschaftsabbruch bei Women Help Women in Erwägung zu ziehen und den Eingriff zu Hause mit unserer virtuellen oder telefonischen Unterstützung durchzuführen – eine Option, die aufgrund der derzeitigen Lockdowns und Reisebeschränkungen besonders begehrt ist. Diejenigen, die diese Grenze überschreiten, werden mit Organisationen in Großbritannien, Deutschland oder den Niederlanden in Kontakt gebracht, die die Reise begleiten und einen sicheren Aufenthalt ermöglichen. Für einige Reisende ist unsere bloße Anwesenheit wichtig, wir sind oft die einzigen, die ihre Entscheidung nicht beurteilen, die Einzigen, mit denen sie frei darüber sprechen können. In anderen Fällen ist es die finanzielle Hilfe, die den Unterschied ausmacht. Ohne sie wäre selbst der Gedanke ans Reisen und an ein Verfahren unvorstellbar.
Der Ausbruch der Pandemie hat den Zugang zu Abtreibungen im Ausland erschwert, aber nicht unmöglich gemacht. Er lehrte uns, gemeinsam kreative Problemlösungen zu erarbeiten: Die Suche nach Ausnahmeregelungen für Grenzgänger*innen, Findung und oft auch Neuerfindung von Möglichkeiten zur Vermeidung einer obligatorischen Quarantäne im Abreise- und Ankunftsland und die Suche nach den sichersten Reiserouten. Auch als die Grenzen geschlossen waren, setzte Abtreibung ohne Grenzen ihre Arbeit fort, damit Abbrüche eine Möglichkeit sind und bleiben. Tatsächlich waren wir noch nie so beschäftigt wie heute und haben einen dramatischen Anstieg der Hilferufe von Betroffenen erlebt. Es ist nicht das Gesetz, das in Polen die Realität von Abtreibungen formt, sondern Aktivismus und Solidarität.