MALMOE

Zettelkasten der ­Superlative

Eine literarische Schnipseljagd zu Ronald M. Schernikaus letztem Roman legende

Im folgenden Text verzichten die Autor:innen bewusst auf gendergerechte Sprache. Ein Diktat, dem sich die Redaktion schließlich fügte: „Das mit dem Gendern und der Collage ist so ein Ding. Um näher an Schernikau zu bleiben, haben wir im Text darauf verzichtet.“

Literatur und Legende fängt beides mit L an, ist also eine Alliteration – so hat Richard Wagner ganze Opern geschrieben. Die große Form erfordert Größe der Gedanken. Die großen Gedanken, und das ist so langweilig, folgen auf die großen Fragen: Wie kann man unter Toten leben? Können wir leben ohne Hoffnung? Wie kann es eine Freude geben, ein Vergnügen, eine Schönheit? Was macht ein revolutionärer Künstler ohne Revolution?

Aber Moment. Manche verstehen hier gar nichts, manche wenigstens ein bisschen. Es folgt der Service-Teil. Bitteschön! Es geht um die legende. Das letzte große Werk von Ronald M. Schernikau. Jetzt ist sie endlich da, also wieder da: Eine kleine erste Auflage kam Ende der 1990er, die große zweite ertrank im neuen Jahrtausend in der Elbflut. Jetzt, dank des Verbrecherverlags, die Neuauflage. Die Leute freuen sich. Sogar ein Theaterstück haben sie gemacht. Alle wollen mitreden. Nur: Über ein Buch reden, das man nicht gelesen hat, ist schwer. Über einen Menschen reden, den man nicht gekannt hat, auch. Einen Menschen zu Wort kommen lassen, der schon tot ist, scheint dagegen wie ein Kinderspiel, gerade wenn er Bücher geschrieben hat. Also Annäherung über Kannibalismus, so lernt man sich kennen.

Zurück zum Text: Der Künstler also liest Bücher über Künstler, weil er wissen will, wie die anderen zurechtgekommen sind, und jedes Buch gibt eine eigene Antwort. Und dass die nicht stimmt, ist ihm klar, denn das mit der Totalität, das kennen wir bereits. Und wer darum keine Biografien machen will, der macht halt Gedichte. Und wer ein Kommunist ist und Gedichte macht, der macht sie so, wie er denkt, ein Kommunist müsse Gedichte machen. Die, die die linken Zeitungen dann so drucken, sind schrecklich ehrlich und furchtbar verantwortungsbewusst und klug und voller gutem Willen – aber es sind keine Gedichte. Kunst ist immer gebaut: Sie ist merkwürdig gemischt aus Gewolltem und Gemachtem. Das Gemachte kommt mit Augen zu. Das Gewollte dauert länger. Das Machen und das Wollen und die Lücke dazwischen, das sind ja auch die Probleme mit dem Kommunismus. Aber wer das zu laut sagt, ist schnell bürgerlich oder gleich elitär. Kunst ist immer elitär, denn sie wurde von dem einen gemacht und nicht von den anderen. Der erste Mensch, der mein und dein reimte, war ein Genie; der zweite ein Trottel. Das ist die Form.

Der Inhalt ist die Welt. Man kann über sie alles behaupten, nur irgendwann muss man sich für eine Behauptung entscheiden. Die Behauptung, wenn sie gelingt, nennt man Abbildung. Ein merkwürdiger Irrtum ist zu glauben, dass Abbildung Zustimmung bedeutet. Abbildung bedeutet immer nur Abbildung. Kunst aber ist die Fähigkeit, durch Abbildung Stellung zu nehmen. Die Welt ist falsch eingerichtet, also trägt jede Abbildung die Information, dass die Welt falsch eingerichtet ist, egal, ob der Betrachter des Bildes das weiß, oder die Macher. Die Welt ist die Erklärung der Welt.

In den schlechten Fernsehserien müssen bei Straßenszenen immer Statisten durchs Bild laufen, das ist dann Realismus. Aber Realismus müsste heißen: Pickel sind ein zeitlich bedingter Zustand – und sie haben überhaupt nichts damit zu tun, wie man wirklich aussieht. Lass immer die Pickel weg, sie gehören nicht ins gute Bild, das man möchte. – Das, Damen und Herren, ist purer Hegelianismus: Was nicht zum Wesen eines Dings gehört, wird weggelassen.

Nochmal der Service-Teil: Man muss die legende natürlich nicht lesen, aber man sollte. Man muss aus schnell zusammengesuchten Schernikau-Zitaten keine Collage machen, aber man könnte. Man kann beides, die legende wie die Collage ablehnen, aber man muss nicht. Aber vielleicht ist alles richtig. Vielleicht hat das Publikum recht, die radikalsten Versuche seiner Künstler eben abzulehnen. Vielleicht gehört zur Kunst das Publikum der Kunst dazu. Vielleicht kann das Publikum etwas, was der Künstler nicht kann. Der eine weiß das eine und der andere das andere. Ein Genie braucht immer eine Weile, um zu begreifen, dass die anderen das nicht können, was es selber kann. Ich staune jedes Mal neu, wenn jemand kein Kommunist ist. Der Kommunismus liegt so auf der Hand! Aber vielleicht haben die anderen keine Hand?