Wie sie Herrschaftsverhältnisse unterwandern
„Als Frauen wurde uns beigebracht, unsere Unterschiede [also die Unterschiede, die zwischen uns Frauen bestehen], unsere differences, entweder zu ignorieren oder sie als Grundlage für Trennung und Misstrauen zu betrachten – vielmehr denn als Kraft für Veränderung. Ohne Gemeinschaft, ohne community, gibt es keine Befreiung, lediglich den höchst verwundbaren und vorübergehenden Waffenstillstand zwischen einer individuellen Person und ihrer Unterdrückung. Gemeinschaft aber darf weder bedeuten, dass unsere Unterschiede, unsere differences, einfach abgestreift werden, noch dass der klägliche Vorwand bemüht wird, diese Unterschiede existierten nicht.“
Dieser Textauszug stammt aus Audre Lordes Essay The Master’s Tools Will Never Dismantle the Master’s House. Lorde beschäftigt sich darin mit jenen herrschaftlichen Werkzeugen, die vermeintlich zum Einsatz kommen müssen, um sich in verschiedenen Bereichen, etwa in der Wissenschaft oder in der Kunst, durchsetzen zu können. Zu diesen Master’s Tools zählen die Mechanismen, mit denen vielfältige Unterschiede zu einer Differenz gebündelt werden. Wenn wir über weibliche Erzählperspektiven sprechen, gilt es, die Verfahren, die eine Differenz herstellen, eingehender in Betracht zu ziehen und jene Klammer zu lösen, die die Unterschiede feststellt und sie ihrer Beweglichkeit, ihrer aufrührerischen Kraft beraubt.
Kein X für ein Y vormachen
Weibliche Erzählperspektiven werden oft festgestellt. Das lässt sich nachlesen in Rezensionen, in denen etwa ein genuin „weiblicher“ Tonfall bescheinigt oder erinnerungspolitische Texte von Autorinnen als „poetische Autobiografien“ ausgewiesen werden – ausgewiesen auch aus politischen Auseinandersetzungen. Das lässt sich nachvollziehen, wenn Autor_innen, Theatermacher_innen, Wissenschafter_innen gefragt werden, wie das mit Kind überhaupt funktionieren könne oder, umgekehrt, ob sie denn wirklich in Betracht zögen, keine Kinder zu bekommen und alles „der Karriere“ zu opfern. Das Alter spielt dabei immer eine Rolle.
„Weiblich“ wird in diesen allzu bekannten Zusammenhängen festgeschrieben als das Andere – das passiert auch mit den Unterschieden, die Hautschattierungen, Lebensumstände und Lebensperspektiven betreffen: Für Menschen, die in ein Land eingewandert sind und schreiben, sind ebenso bestimmte Themen- und Ausdrucksreservoirs vorgesehen. Dabei kommen jene herrschaftlichen Werkzeuge zum Einsatz, die verschleiern und vergessen machen, dass sich ein Anderes immer von einem bestimmten Standpunkt aus konstituiert, einem Standpunkt, der ebenso beschrieben und festgestellt werden könnte wie „das Andere“, der sich dieser Betrachtung aber dadurch entzieht, indem er als „das Allgemeine“ auftritt.
Wenn wir unsere Unterschiede aus dieser Klammer der einen Differenz lösen wollen, um ihnen ihre Beweglichkeit, ihre aufrührerische Kraft zurückzugeben, sollten wir wieder von weiblichen Erzählperspektiven sprechen – nur anders, nicht mit dem herkömmlichen Werkzeug, und immer im Plural. Nehmen wir die Differenz nicht als gegeben, sondern betrachten wir sie als Bewegung, die in der Lage – oder vielmehr: am Zuge ist, die scheinbar so selbstverständliche Referenz, das Allgemeine, zu verschieben und aus der vermeintlich universalen Fassung zu bringen.
Dazu ein Beispiel: Es gibt einen als selbstverständlich, das heißt: als allgemeingültig betrachteten Kanon an Erfahrungen, die in Texten der europäischen Literaturgeschichte repräsentiert werden. Diese Erfahrungen, die als typische dargestellt, als allgemeine vermittelt werden, sind, wenn sie aus weiblichen, schwarzen, migrantischen Perspektiven, aus den Perspektiven der Anderen betrachtet werden, tatsächlich jedoch speziell. Der umfassend gebildete Stadtflaneur – eine sehr bekannte und immer wieder aufgegriffene Figuration –kann die Tiefen und Untiefen seines Wesens nur deshalb in Ruhe, also von seiner Umgebung unbehelligt, ausloten, da er als weißer Mann mittleren Alters durch europäische Großstädte spaziert. Schon eine kleine Abweichung, etwa in der Hautschattierung oder im Geschlecht, ändert die Erfahrung, sich durch eine europäische Stadt zu bewegen, grundlegend. Den meisten Menschen ist es nicht möglich, die Umgebung ganz und gar nach eigenem Gutdünken auf sich wirken zu lassen. Da sind Blicke, die an die Haut gehen, Gesten und Kommentare, die sich auf einen Körper beziehen, dem es nicht gegeben ist, sich in einer rein geistigen Innen- und Außenschau aufzulösen.
Nicht die Darstellung der Erfahrung eines inspirierten Stadtspazierganges ist das Problem. Sie ist ebenso Ausdruck eines speziellen Zuganges zu einem bestimmten Stadtraum wie die Schilderung einer schwarzen Frau, die in einer deutschsprachigen Kleinstadt ihrer Wege geht, oder eines Menschen, für den jede Gehsteigkante ein Hindernis bedeutet. Die Verallgemeinerung dieser spezifischen Erfahrung und ihre Erhebung zu einem allgemeingültigen Maß für die literarische Erfahrung einer Stadt sind es, die all jenen zum Problem werden, die diese nicht für sich in Anspruch nehmen können. Ihre Erfahrungen im Umgang mit Stadt werden oft auch von ihnen selbst nicht als literarisch, nicht als repräsentativ wahrgenommen.
Der Ausweg daraus besteht nicht darin, die spezifische Figur des weißen, männlichen, bürgerlichen Stadtflaneurs einfach mit weiblichen Attributen zu versehen, ihn der Leit-Differenz entsprechend zu markieren – etwa in der Person einer weißen, bürgerlichen Frau, die sich im Grunde dieselben historisch informierten, an den großen Söhnen der Stadt geschulten Gedanken macht. Es ist vielmehr der Gang durch die Stadt, die Bewegungen, die Ensembles von Erinnerungen und Reflexionen, die unterschiedlich sind, die andere Bezugspunkte setzen und dadurch die vermeintlich unantastbaren, universellen aus den Angeln heben.
Nicht den Mangel nehmen lassen
Die Überlegungen zu dem Ausdruck „in die Mangel nehmen“ verdanke ich einem beflügelnden Gespräch mit Ilse Kilic, das vergangenen Herbst bei einem Spaziergang an der Alten Donau stattgefunden hat. Das Bild der Wäschemangel, der Walzen, durch die Gewebe, Textur, mit großem Druck gezogen wird, hat uns dabei beschäftigt. Die Frage war, wie jene Widerstandskräfte entwickelt, geteilt und weitergegeben werden können, die der Glättung und Pressung durch die Mangel entgegensetzt werden. Es wird keine allgemeingültige Antwort auf diese Frage geben – sie lässt sich nur entlang der Unterschiede, die sich weder abstreifen noch zu der einen Differenz bündeln lassen, beantworten.
Die verschiedenen Weisen, in denen die herrschaftlichen Werkzeuge in Gebrauch genommen werden, um uns in die, um uns in den Mangel zu nehmen, haben im Laufe der Jahrhunderte verschiedene Formen von „natürlichem“ oder strukturellem Nachholbedarf produziert: „Weiblich“ als Differenz, die hergestellt wird, wird entweder als unerreichbares Ideal oder als nicht zu kompensierender Mangel konstituiert. Entweder gilt eine Erzähl-, eine Schreib- oder Darstellungsweise als zu wenig weiblich, es fehle an Einfühlungsvermögen, an Poesie, an Selbstreflexion; oder als zu weiblich, also zu nah am eigenen Leben, zu emotional et cetera. Der Ausweg aus der Mangel, aus der Glättung und Pressung, besteht nicht darin, dem Druck der einen oder der anderen Walze nachzugeben, sich der einen Differenz zu verschreiben oder zu versuchen, sich die herrschaftlichen Werkzeuge anzueignen. Es hilft nichts, die Unterschiede des Weiblichen, der Hautfarbe, der sozialen Lage entweder zu ignorieren oder als Grundlage für Trennung und Misstrauen zu betrachten – noch einmal Audre Lorde:
„Differenz darf nicht bloß toleriert werden, sie soll vielmehr betrachtet werden als Fundus für notwendige Gegensätzlichkeiten, zwischen denen unsere Kreativität wie eine Dialektik entfacht werden kann. Nur dann wird die Notwendigkeit von Wechselwirkungen, von gegenseitiger Abhängigkeit weniger bedrohlich. […] In dieser Wechselwirkung von gegenseitigen nicht-dominanten Unterschieden [non-dominant differences] liegt die Sicherheit, die uns ermächtigt in das Chaos von Wissen hinabzusteigen und mit wirklichen Visionen von unserer Zukunft zurückzukommen, zusammen mit der damit einhergehenden Kraft, jene Veränderungen herbeizuführen, die diese Zukunft realisieren können. Difference ist diese pure und mächtige Verbindung, aus der unsere persönliche Kraft geschmiedet wird.“
Es gibt ihn nicht, diesen einen Stoff, aus dem alles Weibliche gemacht ist. Es gibt ihn nicht, diesen Stoff, der nur so und so oft durch die Mangel gedreht werden muss, damit er endlich dem Mustergültigen gleicht.
Die Herstellung der Differenz
In weiblichen Erzählperspektiven reflektieren sich Haltungen, die aus den Unterschieden im Weiblichen schöpfen und auf deren aufrührerischer Kraft bestehen. Sie bedienen sich dabei unterschiedlicher Mittel, die, so verschieden sie sein mögen, den Einsatz der herrschaftlichen Werkzeuge zur Herstellung von Differenz unterwandern, subvertieren, polemisieren, problematisieren, karikieren, inszenieren oder des Platzes verweisen. Diese „Kreativität“, die zwischen den „notwendigen Gegensätzlichkeiten“ „wie eine Dialektik entfacht“ wird, lässt die Pole schmelzen, an denen das Weibliche als Ideal und als Mangelware hergestellt und festgemacht wird.
Das Zutrauen in diese aufrührerische Kraft, in diese „Verbindung“ ist auch ein Zutrauen von Teilbarkeit, von Mitteilbarkeit unterschiedlicher Erfahrungen. Dazu noch ein Beispiel: Ende November war im Rahmen der Erich-Fried-Tage im Literaturhaus Wien Claudia Rankin zu Gast und hat eine Lecture zu ihrem Prosa-Gedicht Citizen gehalten. Im Gespräch hat sie davon erzählt, wie oft weiße Menschen, vor allem weiße Frauen ihr gegenüber behaupteten, sie sähen die unterschiedlichen Hautfarben gar nicht, sie nähmen sie schlichtweg nicht war. Diesem – wie Audre Lorde es benannt hat – „kläglichen Vorwand, diese Unterschiede existierten nicht“, hat Claudia Rankin etwas entgegengesetzt, das sie als „Tor, an dem sich der farbblinde Blick bricht“, bezeichnet. In Citizen spricht sie die Leser_innen mit „you“, mit Du (oder Ihr) direkt an. Sie verhandelt jene Mikro-Aggressionen, die People of Colour in den USA, und nicht nur dort, tagtäglich widerfahren. Es sind spezifische Erfahrungen, gesammelt in Gesprächen mit Freundinnen, die den Leser_innen zugetraut werden – in direkter Ansprache und ohne das konkrete rassistische Moment direkt zu benennen. Die Episoden können nur dann in ihrer rassistischen Tragweite verstanden werden, wenn die Unterschiede zwischen den Hautfarben begriffen und in ihren Konsequenzen wahrgenommen werden. Die Selbstverständlichkeit, mit der die Episoden als Schwarz-weiß-Geschichten gelesen und verstanden werden können, ist erschütternd. Jede vordergründig behauptete „Farbblindheit“, jede behauptete In-Differenz wird Lügen gestraft und in eine artikulierbare Nähe oder in eine ebenso artikulierbare Distanz verwandelt. Die direkte Ansprache des Du (oder Ihr) fordert eine Haltung ein, in der sich die Unterschiede nicht wegleugnen, nicht abstreifen und auch nicht übersehen lassen.
Dass dieses Zutrauen von Teilbarkeit und Mitteilbarkeit immer wieder als Zumutung aufgefasst wird, dass diese Bewegung, die am Zuge ist, die scheinbar so selbstverständliche Referenz, das Allgemeine, zu verschieben und aus der vermeintlich universalen Fassung zu bringen, dadurch zum Stillstand gebracht werden soll, dass unterschiedliche Erfahrungen gegeneinander ausgespielt werden, ist auch ein leider nur allzu bekanntes Einsatzgebiet herrschaftlicher Werkzeuge.
Unterschiede weder zu ignorieren noch als Grundlage für Misstrauen zu betrachten und sie den trennenden, den polarisierenden Hierarchisierungen zu entreißen bedeutet, daran zu arbeiten, sie als nicht-dominante Unterschiede zu artikulieren und als gesammelte Widerstandskräfte gegen die Mangelnahme zu begreifen.
Der Text basiert auf einem Impulsreferat für das Symposium Weibliche Erzählperspektive(n), das am 08. Dezember 2019 im Kosmos-Theater stattfand.