Widersprüche im türkis-grünen Regierungsprogramm
In Verhandlungen um Restitution und Rückführung von Dingen und auch von menschlichen Überresten, die in kolonialen Kontexten angeeignet wurden und nun in musealen und akademischen Sammlungen lagern, nimmt die Provenienzforschung eine zentrale Rolle ein. Von Seiten der besitzenden Institutionen ist – wenn diese Frage überhaupt aufgegriffen wurde – lange der Fokus darauf gelegt worden, über Forschung zur Herkunft der Sammlungen „ethisch“ Angeeignetes von „unethisch“ Angeeignetem zu trennen, um sich letzterem möglicherweise zu entledigen und ersteres zu legitimieren. Langsam verschiebt sich die Diskussion zu einer grundlegenderen Auseinandersetzung damit, was unter Kolonialismus zu verstehen ist, welchen Einfluss er auf Gründung und Entwicklung europäischer Museen hatte und was das für unsere Gegenwart heißt.
So heißt es in einem 2018 vom Deutschen Museumsbund herausgegebenen Leitfaden zum Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten, eine Diskussion um die koloniale Vergangenheit von Museen und ihren Sammlungen sei unverzichtbar. Objekte aus kolonialen Kontexten stünden über ihre jeweilige Objektgeschichte hinaus für ein Wertesystem, das Unterdrückung und Ausbeutung förderte. Was die Provenienzforschung anbelangt, hat Deutschland außerdem letztes Jahr einen Schritt gemacht, der noch vor Kurzem eine aussichtslose Forderung zu sein schien. Am Deutschen Zentrum Kulturgutverluste gibt es nun einen Bereich zur Förderung von Provenienzforschung zu Kultur- und Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten. Damit gibt es erstmals eine zentrale Anlaufstelle. Geplant ist zudem eine Kontaktstelle für Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten, die sich vor allem an die „Herkunftsgesellschaften“ richten will.
Die Pläne der neuen österreichischen Regierung könnten ähnliche sein. Im türkis-grünen Regierungsprogramm heißt es im Abschnitt zu Bundesmuseen, es solle neben Untersuchungen zu Enteignungen und Veräußerungen im Zusammenhang mit nationalsozialistischer Verfolgung ein „zusätzlicher Bereich für die postkoloniale Provenienzforschung und den Umgang mit human remains etabliert werden“. Informationen dazu, welche konkreten Maßnahmen angedacht sind, konnte ich jedoch nicht finden, auch nicht in der Beantwortung einer Anfrage „betreffend Stand der Provenienzforschung und Restitution von Kolonialkunst und kolonialzeitlichen Museumsgegenständen vom afrikanischen Kontinent im Besitz der österreichischen Bundesmuseen“, die noch Ende letzten Jahres von den NEOS gestellt worden war.
Bundesminister Kogler legt darin dar, dass die koloniale Provenienzforschung bisher anlassbezogen und als Teil der kuratorischen Arbeit erfolgt sei, nicht jedoch systematisch. Vernetzung, Systematisierung und institutionelle Verankerung stehen am Anfang. Auch für Rückgaben gibt es kein „formalisiertes Prozedere“. Alle bisher erfolgten sind als Einzelfälle verhandelt und durchgeführt worden. Kogler verweist zudem auf eine neue Veranstaltungsreihe zum „Museum im kolonialen Kontext“ des BKA. Beim ersten Workshop im Oktober letzten Jahres hielt selbst eine Autorin ansonsten affirmativ-anekdotischer Narrative unter Titeln wie „Das Haus der Wunder: Zur Geschichte des Naturhistorischen Museums Wien“ einen Vortrag zum Eurozentrismus von Forschungsreisen. Von Aktivist_innen und einzelnen Forscher_innen jahrzehntelang betriebene Analysen und kritische Perspektiven bekommen nun also Aufmerksamkeit aus den Chef-Ebenen der Politik. Das ist bei aller Ambivalenz zunächst vielversprechend.
Zentral aber ist folgende Frage: Wie verhält sich das Vorhaben, koloniale Provenienzen in den Blick zu nehmen, und damit die eigene koloniale Vergangenheit kritisch zu hinterfragen, zu einer dermaßen verachtungsvollen Migrationspolitik, wie sie die neue Regierung plant? Der 2018 erschienene, breit rezipierte Bericht zur Restitution afrikanischer Kulturgüter von Bénédicte Savoy und Felwine Sarr trägt im französischen Original einen bedeutsamen Untertitel, der sich etwa in „Für eine neue relationale Ethik“ übersetzen lässt. Provenienzforschung muss die Wissensordnungen und Herrschaftsverhältnisse angreifen, welche diese kolonialen Sammlungen möglich gemacht haben und für die sie heute noch stehen. Das bedeutet eine grundlegende Hinterfragung kolonialer Ordnung – und damit auch von aktuellen Grenzregimen. Ganz konkret wird auch eine Museumsforschung, die an einer Erneuerung der Beziehungen interessiert ist, von Grenz- und Visapolitiken massiv erschwert. Die ungleiche Verteilung der Bewegungsfreiheit begrenzt die Zugänglichkeit von Sammlungen in Europa für Menschen aus dem „globalen Süden“ zusätzlich. Es ist wichtig, solche Fragen bei Diskussionen in musealen Marmorhallen stark zu machen. Dass Museen zu einem Katalysator für eine kritische Auseinandersetzung mit unserer post-kolonialen Gegenwart gemacht werden konnten, sollte als Chance genutzt werden, an deren Grundfesten zu rütteln. Sonst besteht die Gefahr, dass Diskussionen um Sammlungsherkunft und Rückgaben Platzhalter werden, Scheinwelten der Hinterfragung des Status quo.