MALMOE

Fetisch, Spaltung, Handlungsfähigkeit

Gestörtes Störendes #13

„Wir sind die Kanarienvögel in den Minen“, schreibt Paola Bacchetta, eine queerfeministische Theoretikerin und Aktivistin über die Situation von queeren People of Color (POC). Kanarienvögel wurden lange Zeit im Bergbau eingesetzt, um die Bergarbeiter_innen zu warnen, wenn der Sauerstoffgehalt sank bzw. durch giftige Grubengase kontaminiert wurde: Hörte der Vogel zu singen auf, drohte Lebensgefahr. Es besteht also eine Beziehung zwischen Vögeln und Minenarbeitern_innen, die jedoch instrumentell ist. Auf die Gesellschaft umgelegt kann gesagt werden, dass es der Mehrheit nicht bewusst ist, dass wir uns alle in der Mine befinden und das Sterben der Vögel nur der Vorbote des eigenen Endes ist. Durch das Ignorieren dieser Tatsache bzw. das aktive Verdrängen selbiger, also desselben Schicksals, kann die Gleichheit der Menschen selbst verdrängt werden. Subalterne Subjektivitäten werden als etwas völlig anderes konstruiert, als Wesen, die mit „dem Normindividuum“ nichts zu tun haben. Auch schon die Konstruktion von „Frau“ ist eine Andersmachung, ein Othering. Während der Mann das beobachtende, vermessende, einteilende, überblickende, autonome, kreative, beherrschende Zentrum einnimmt, gerät alles um ihn herum zur Spielwiese, zum Territorium, zum Experimentierfeld, zum Kriegsgebiet. Die Frau wird in dieser Logik vom Mitmenschen zum zweiten Geschlecht (nach Simone de Beauvoir).

Es handelt sich bei queeren POC um ausgegrenzte Subjektivitäten, unerwünschte, abgelehnte, ausgestoßene Elemente. Hier werden Gemeinsamkeiten verdrängt und ausgelöscht und die Differenz zum Fetisch erhoben. Unser Alltag ist voll von Fetischen: Kuscheltiere, Glücksbringer, bestimmte Kleidungsstücke, sexuelle Accessoires und so weiter. Es gibt aber auch abstraktere, wie zum Beispiel das Geld (Marx), den Phallus (Lacan) oder gar die Geschlechtlichkeit an sich. In diesem Sinn können wir soziale Konstrukte, denen wir absolute Notwendigkeit und Natürlichkeit zusprechen, auch als Fetische betrachten. Das trifft auf Geschlechterdichotomie und Geschlechterverschiedenheit zu, aber auch auf race, im Sinne von (vermeintlich) naturhaft unterschiedlichen Ethnien, Völkern, und was für Bezeichnungen sonst noch dafür gefunden wurden. Diese Trennlinien sind nämlich weder beliebig noch willkürlich, obwohl sie es natürlich doch sind. Durch den Fetischcharakter, ihre gesellschaftliche Wirkmächtigkeit, werden die Aspekte der Willkür und Beliebigkeit ausgeblendet, abgespalten, verdrängt. Die Differenzen können nicht mehr als Konstruktionen erlebt werden, sondern fühlen sich wahr an. Der Konstruktionscharakter ist nur mehr retrospektiv bzw. über die analytische Reflexion erschließbar. Die Spaltungen sind konstitutiv für unsere Wirklichkeit und notwendig für ihr Funktionieren (in dieser Form). Ein Aufweichen dieser Trennungen hat für viele Menschen teilweise sehr bedrohlichen Charakter. Das Bedrohliche kommt durch die Abspaltung zustande, durch das Verorten dieser Anteile an den Extremen. Freud erörterte in seinem Text Das Unheimliche, dass ein Grund dafür, warum wir etwas als unheimlich wahrnehmen, ist, dass es uns an etwas eigenes Verdrängtes erinnert. Es geht also um zu verleugnende Gemeinsamkeiten.

Der Mensch kann sich die Bedingungen seiner Existenz selbst schaffen und er hat diesen gegenüber eine doppelte Möglichkeit: sie unangetastet zu lassen und in ihnen zu handeln oder sie zu verändern und unter geänderten, neuen Bedingungen zu handeln. Unter kapitalistischen Herrschaftsbedingungen entspricht dieser doppelten Möglichkeit das Begriffspaar restriktive und verallgemeinerte Handlungsfähigkeit. Bei der restriktiven Handlungsfähigkeit werden die Bedingungen, in denen ich handle, nicht angetastet, also die strukturelle und konkrete Unterdrückung anderer in Kauf genommen. Verallgemeinerte Handlungsfähigkeit jedoch meint eine solche, die andere im Blick hat und mit ihnen versucht, die Bedingungen gemeinsam zu ändern, in einem verallgemeinerten Interesse. Wenn ich andere beherrsche, verhindere ich eine tiefergehende Kooperation, eine, die die Würde und Integrität aller wahrt. Durch die Instrumentalisierung anderer nehme ich in Kauf, dass sie mich auch instrumentalisieren. Die gegenseitige Isolation verhindert ein gemeinsames Handeln zum Wohle aller. Letztlich werden so Vereinzelung und Instrumentalisierung verstärkt, was mir langfristig selbst schadet.

Wir alle leben in Herrschaftsverhältnissen und denen, die gerade oben sind, ist die eingeschränkte Verfügung über ihre Lebensbedingungen bloß gewährt, bis auf Widerruf. Die Spaltung der Menschen in Hautfarben, Klassen, Geschlechter, sexuelle Orientierungen und so weiter mag Macht verleihen, sie füttert jedoch die Angst des Sturzes, des Verlustes, welche wiederum verdrängt werden muss. Eigentlich liegt es im Interesse jedes Menschen, niemanden zu unterdrücken, auszugrenzen, auszubeuten, zu beherrschen, denn dann kann kooperativ dafür gesorgt werden, dass auch ich nicht unterdrückt und ausgegrenzt werde. Insofern ist Bacchettas Statement, queere POC seien die Kanarienvögel, die die gesamte Gesellschaft vor negativen Entwicklungen warnen, noch weiterzudenken, da es die Spaltung in Kategorien von Menschen nicht überwindet. Es geht darum, dass hier andere, von denen auch ich ein Teil sein könnte, unterdrückt und diskriminiert werden, dass es also potentiell auch ich bin, dem das widerfährt. Die Abspaltung dieser Einsicht zieht Gräben, ihre Reflexion hat hingegen das Potential, sie zuzuschütten – oder zumindest Brücken zu bauen.