Wenn Futurismus die ästhetische Schwester des Fortschritts ist, so verhält es sich mit Retro und Rückschritt gleich. Die Dimensionen Fortschritt und Rückschritt sind einer klaren Bewertung ausgesetzt und teilen die Gesellschaft in politische Lager. Während die Mehrheit eine fortschrittliche Gesellschaft sein will – was auch immer das genau heißen soll – hängen gerade Bürgerliche und Linke der Kulturmaschinerie der Vergangenheit nach: in den Fünfzigern, wenn es um das Mobiliar geht, oder in der Klassik, so es die Musik betrifft. Das Sammelsurium an Retro aus unterschiedlichsten Zeiten verzückt und entrückt jegliches Zeitgefühl. Aber haben wir es hier mit Konservativismus zu tun?
In Retro spiegelt sich ideengeschichtlich immer auch Regression und Konservativismus wider. Schon allein, dass man davon ausgeht, dass die guten schönen Dinge in vergangenen Jahrzehnten zu suchen sind, liegt in der Ideologie des: „Früher war alles besser“. Dieser Ruf nach möglicherweise nie dagewesenem Vergangenen speist sich aus einer Notwendigkeit: Gesellschaftliche Phänomene der Gegenwart sind überfordernd und die Vergangenheit darf als Ideal das aufnehmen, was uns verwehrt bleibt. Beispielsweise wirken die alten Handwerke so schön konkret im Vergleich zum eigenen Lohnarbeitsdasein als Content Creator. Retro kann also psychisch erholsam sein, sollte aber nicht unreflektiert zum Habitus avancieren.
Letztlich hängt die Gesellschaft aber auch unabhängig ihrer reaktionären Ideologien materialistisch an der Vergangenheit. Das bedeutet, dass die Welt, die wir uns geschaffen haben, notwendigerweise Zeugin vergangener Tage ist – ob verdinglicht oder als kulturelles Gedächtnis. Der momentane Retroschick ist folglich nichtbedingt ein ästhetischer Trend, der mit reaktionären Ideen einhergeht. Ihm wohnt immer auch eine emanzipatorische Potenz inne, wobei die Potentialität sich in den herrschenden Beziehungen oft nicht realisieren kann.
Zudem ist Retro erkenntnistheoretisch spannend, wenn man sich den Widerspruch zwischen menschlicher Lebenszeit und menschlicher Erkenntnismöglichkeit vor Augen führt, wie Fredric Jameson betont. Der Springer als Denkfigur beschreibt die Wirkkraft, welche das Phänomen des Retroschick auszeichnet. Schließlich ist der Springer im Schach die einzige Figur, die andere überspringen kann, nicht Feld für Feld überqueren muss, sondern diese Logik durchbrechen kann. Aus dem Bewusstsein über unser Verstricktsein in Zusammenhänge außerhalb unserer Erkenntnismöglichkeiten (sprich: Geschichte) kann der Sprung in die Vergangenheit immerhin Anfang einer neuen Haltung, einer neuen Handlungsgrundlage sein. Alles andere wäre Schicksalsergebenheit. Zurück in die Zukunft also!