MALMOE

Die postkoloniale Kondition

Der zweite Teil der Serie zu Denken, Schaffen und Wirken von Gayatri Chakravorty Spivak blickt auf das koloniale Vermächtnis

In MALMOE 90 haben wir Spivak als feministisch-marxistische Dekonstruktivistin vorgestellt. Die drei Hauptbezüge, Feminismus, Marxismus, Dekonstruktivismus, stellen für die postkoloniale Intellektuelle keinen Widerspruch dar, sondern werden von ihr als sich gegenseitig beeinflussende und ergänzende Quellen politisch intervenierender Theoriebildung beschrieben. Wir haben aufgeschlüsselt, warum die Standards ihres Arbeitens an beiden Enden des Spektrums – ihrer Lehre an der New Yorker Ivy League Universität Columbia und dem Ausbilden von Vermittler_innen im ländlichen Indien – mit denselben Ansprüchen geschieht und was das mit einer grundsätzlichen ethischen Beziehung zu tun hat.

Die von Spivak aufgeworfene Frage, mit der wir den ersten Teil dieser Einführungsserie beendeten, lautete: „Warum postkoloniale Länder zur Hölle gehen?“ Für Spivak ist die Frage leicht beantwortet: Weil sie die Praxis der Freiheit (practice of freedom) nie erlernt haben. Was das genau bedeutet, wird in ihren Schriften in vielfältiger Weise beschrieben.

Die deutschsprachige Rezeption von Spivak beschränkt sich leider oft darauf, Zitate aus den Schriften kontextfrei wiederzugeben und/oder ihre Thesen so zu biegen, dass sie der eigenen Ideologie zum Nutzen gereichen. Die Simplifizierungen ihrer dichten Analysen laufen Gefahr, die intendierte Aussage zu unterwandern und die Schriften zu entpolitisieren.

Das Zitat von der Hölle und der Freiheit aufgreifend, wollen wir uns in diesem Artikel das Post im Postkolonialen verbunden mit dem Erbe der gescheiterten Dekolonisierung anschauen sowie einige Konzepte und Theoriebezüge ansprechen, die postkoloniale Macht- und Herrschaftsstrukturen sichtbar machen.

Das Postkoloniale denken

Postkolonialen Studien stellen ein Feld breiter und kontrovers geführter Debatten dar. Die Vielfalt der theoretischen Erörterungen und Strategien ist nicht so schnell versteh- und durchdringbar, sie sind auch nicht auf ein oder zwei Paradigmen reduzierbar. Nichtsdestotrotz gibt es einige Grundannahmen und Konzepte, die fast alle Theoretiker_innen teilen und die postkoloniale Theorie wie fixe Eckpunkte rahmen.

Ein zentrales Argument ist, dass ökonomische, soziale und kulturelle Strukturen, die in der Kolonialzeit etabliert wurden, weiter fortwirken und nicht mit dem Erfolg antikolonialer Bewegungen zu einem Ende kamen. Mit dem aggressiven Voranschreiten eines neoliberalen Kapitalismus und dem zunehmenden Einfluss multinationaler Konzerne werden neokoloniale Strukturen und Strategien deutlich sichtbar. Leidtragende sind abermals die ehemals unter europäischer Herrschaft stehenden und die Profiteure sind jene Mächte, die sich maßgeblich über Plünderungen und Ausbeutung der kolonialen Territorien und Bevölkerungen bereicherten und dies eben immer noch tun.

Um diese Dynamiken sprachlich fassen zu können, zirkulieren mehrere Begriffspaare, die jeweils selbst Gegenstand von intensiven Debatten sind, wie etwa „Globaler Norden/Süden“, „the West and the Rest“ oder „Erste“ und „Dritte Welt“. Wobei zum Beispiel letzteres Paar oft als hierarchische Abwertung verstanden wird. Die Bezeichnung wurde Mitte der 1950er Jahre selbst von „neuen“ dekolonisierten Ländern Asiens und Afrikas vorgeschlagen, die sich in der Zeit des Kalten Krieges selbstermächtigend der Dichotomie „Erster Welt“ (Westen) und „Zweiter Welt“ (Ostblock) entzogen haben, um darüber einen alternativen dritten Weg anzukündigen.

Spivaks Schriften sind durchzogen von klugen Auseinandersetzungen zum Zusammenspiel epistemischer, ökonomischer und politischer Gewalt. Ihr Fokus liegt dabei auf subalternen Frauen, die zum einen die größten Leidtragenden des globalen Finanzkapitalismus sind und gleichzeitig in politisch-ökonomischen Studien als Akteurinnen durchweg ausgelassen werden. So zeichnet sie etwa in ihrer Schrift Righting Wrongs die Kontinuität einer internationalen Arbeitsteilung nach, die dafür sorgt, dass nicht nur zwischen sogenannter Hand- und Kopfarbeit unterschieden wird, sondern diese auch territorial getrennt wird. Während der Westen vor allem die geistige Arbeit übernimmt (etwa Design und Marketing in der Textilproduktion), wird die körperlich anstrengende Herstellung in die ehemalig kolonisierten Ländern verlagert, wo Arbeitskräfte nicht nur kostengünstig zu haben sind, sondern oft zusätzlich Kosten gespart werden können, weil etwa keine Sozialversicherungsbeiträge geleistet werden müssen und eine gewerkschaftliche Organisierung der Arbeiter_innen unmöglich gemacht wird. Die internationale Arbeitsteilung sorgt dafür, dass eine koloniale (Ausbeutungs-)Struktur weiterbesteht. In ihrem Artikel Scattered Speculations on the Question of Value aus den 1980er Jahren bemerkt sie, dass es bekannt sei, dass es Frauen sind, die die schlimmsten Opfer der jüngsten Verschärfungen der internationalen Arbeitsteilung darstellen. Spivak zufolge sind es auch die mächtigen globalen patriarchalen Strukturen, die zu der kontinuierlichen Produktion der subalternen Frau als neuer Kernpunkt der Superausbeutung beitragen.

Das Scheitern der Dekolonisierung

Die anhaltende Abhängigkeit ehemalig kolonisierter Länder besteht auch deshalb, weil, wie Spivak anmerkt, sich unter den antikolonialen Bewegungen mehrheitlich jene bürgerlichen Strömungen durchsetzten, die Herrschaftslogiken der Kolonialzeit adaptierten und reproduzierten. So wurde das Nationalstaatenmodell, welches zur Hochzeit des Kolonialismus selbst ein noch junges bzw. noch nicht wirklich etabliertes Modell geopolitischer Ordnung war, als Erbe des Kolonialismus übernommen. Neben dem Wunsch, national unabhängig zu sein, war die starke Klassendichotomie zwischen urbanen und ländlichen Räumen ein entscheidender Faktor der Ungleichheit, der ehemals kolonisierte Länder in große Krisen stürzte. Die ungelösten gesellschaftlichen Spannungen entfesselten sich unter anderem in anhaltenden gewaltvollen Konflikten auf nationalen und transnationalen Ebenen.

Es wäre nun ein leichtes Spiel, alle Missstände postkolonialer Staaten als Erbe des Kolonialismus zu beschreiben. Spivak jedoch widersteht einer solchen Simplifizierung und bringt etwa problematische Genderdynamiken und religiöse Spannungen, die bereits in vorkolonialen Zeiten wirksam waren, in die Diskussionen ein. Sie verweigert sich nicht nur einer Romantisierung des Präkolonialen, wie dies schon die Panafrikanist_innen und anti-kolonialen Denker wie Kwame Nkrumah und Frantz Fanon taten, sondern vertritt die Ansicht, dass ein simpler, nicht problematisierter Zugang zu vorkolonialem, indigenem Wissen nicht möglich ist. Dieses Wissen ist durch die Kolonisierung unwiderruflich kontaminiert.

Für Spivak besteht das zentrale koloniale Manöver in der Zerstörung des Geistes (minds) der Kolonisierten. Die Zerstörung des Denkens, das eine umfangreiche Dekolonisierung erfolgreich verhindert. Spivak hat sich der Möglichkeit des (Wieder-)Erlernens eines Denkens als Praxis der Freiheit verschrieben. Die Denkart, die sie dabei verfolgt, analysiert die neokoloniale Hegemonie und sucht nach Wegen eines anderen worldings. In ihrem Buch Other Asias schlägt Spivak in diesem Zusammenhang einen „kritischen Regionalismus“ als Alternative zum Nationalismus zum einen und zur Regionalforschung („Area Studies“) zum anderen vor. Ein kritischer Regionalismus, wie Spivak ihn vorschlägt, dekonstruiert Grenzregimes und rigide Identitätspolitiken gleichermaßen. Er zielt dabei nicht auf das Aufbrechen von Nationen, sondern vielmehr auf ein Umformen des Nationalismus.

(Post-)Kolonialismus als Weltmachen

Das Weltmachen (worlding) ist ein Zugang von Spivak, um Wissens- und Machtsysteme aufzuschlüsseln, die dem Kolonialismus auf der einen Seite zu Grunde liegen. Inspiriert von Marx’ Idee des Warenfetischismus, bei dem die Produktionsbedingungen hinter der Ware nicht mehr direkt sichtbar sind, adaptiert Spivak die Konzeptmetapher des Weltmachens mit der Feststellung, dass die gewaltvolle Realität des Kolonialismus entweder unsichtbar gemacht wurde oder in eine weit entfernte Vergangenheit konstruiert wird. So wird suggeriert, diese hätte mit unseren heutigen materiellen Realitäten nichts mehr zu tun. Die „Neue Welt“ wurde nach Spivak in ein Zeichen verwandelt, das ganz nach den Interessen der Kolonisierenden beschrieben werden konnte. So konnte sich die Behauptung halten, Europa hätte ein „unbeschriebenes Land“ betreten, so wurden die genozidalen Verbrechen an den indigenen Bevölkerungen gelöscht als auch das Wissen und die Praktiken, welche in den Territorien präkolonial vorhanden waren, negiert.

Um das ungebrochene Wirken der kolonialen Herrschaft nachvollziehen zu können, arbeitet sie mit dem von Foucault inspirierten Konzept der epistemischen Gewalt (epistemic violence). Dieses beschreibt diskursive Kräfte im Kontext der Wissensproduktion und Machtausübung. Über die Beschreibung der uneingeschränkten Macht des Bezeichnen-Könnens kann die Stabilisierung und Normalisierung eines Diskurses, der die westliche Überlegenheit bestimmt, durchgesetzt werden.

Konzepte des Weltmachens und der epistemischen Gewalt sind miteinander verbunden und ermöglichen es, in einem dynamischen Zusammenspiel die Kontinuität imperialer Denkweisen freizulegen. Spivak stellt mithilfe der Konzepte die Konstruktion des Westens als normative und normgebende, „gute“ sowie „richtige“ Sichtweise fundamental in Frage. Die imperialen Phantasien hierarchisieren und strukturieren die Welt ganz nach den Interessen der Betrachtenden. So ist es kaum zufällig, dass die Konstruktion des modernen Rassismus in die Hochzeit des europäischen Kolonialismus fällt. Die Absprechung des Menschseins der Kolonisierten ist Konsequenz des imperialen Projekts Europas und geht einher mit einem grundlegenden Ausschluss der Mehrheit der Weltbevölkerung vom (europäischen) Projekt der Moderne. Europas „Fortschritt“ wäre aber ohne die Ausbeutungen der Kolonien in vielfacher Weise unmöglich gewesen.

Als Nebennotiz sei hier auf das antidisziplinäre Denken Spivaks hingewiesen, dass Werkzeuge aus den vergleichenden Literaturwissenschaften mit poststrukturalistischen/marxistischen Analysewerkzeugen zusammenführt und so eine wichtige Begriffsarbeit leistet, die postkoloniale Dynamiken besser denk- und sichtbar machen.

Wie die postkoloniale Hegemonie angreifen?

Bleibt die Frage offen, wie ein epistemischer Wandel zu erreichen ist. Spivak ist weder Zynikerin noch naive Optimistin. Ihre Schriften weisen auf die Aporien, die unlösbaren Widersprüche, ebenso hin wie sie Strategien der politisch-ethischen Intervention aufzeigen. Die affirmative Sabotage ruft beispielsweise dazu auf, sich kritisch mit den Schriften der Aufklärung auseinanderzusetzen, um deren Erkenntnisse gegen die Urheber der Schriften zu wenden. Diese Strategie, die häufig zitiert und der nur selten gefolgt wird, kann nur im Zusammenhang mit Spivaks pädagogischen Erörterungen verstanden werden.

Nachdem wir tiefer in die Auseinandersetzung postkolonialer Debatten mit Einschlag auf Spivaks Schaffen eingestiegen sind, gilt es in dem nächsten Artikel die pädagogischen Bezüge sichtbar werden zu lassen, die aufzeigen, warum Spivak Pädagogik als die Neuordnung von Begehren, die ohne Druck und Zwang operiert (uncoercive re-arrangement of desires), versteht.

Der erste Beitrag („Der Werkzeugkasten einer postkolonialen Intellektuellen“) dieser vierteiligen Serie zu Gayatri Chakravorty Spivak ist in MALMOE 90 erschienen. Die Artikel stehen in Beziehung zu einander, lassen sich aber auch losgelöst voneinander lesen.