Die fabelhafte Welt der Körpersäfte #11
In Zeiten von Corona-Virus und Grippe-Wellen ist der Rotz, medizinisch die Borke genannt, überall präsent. Im Radio ist die Rede vom Einhalten der richtigen Nies-Etikette – heutzutage soll nicht mehr in die Hand, sondern in die Ellenbeuge geniest werden. Falls dabei etwas Rotz rausspritzt, ist die neue Sitte auch ganz praktisch. In der Ellenbeuge lässt er sich maximal unauffällig wegwischen.
Zur Frage, was mit dem Nasenschleim getan werden soll, herrschen unterschiedliche kulturelle Ansichten. Während in China und in Österreich lautes Schnäuzen in der Öffentlichkeit kein Problem darstellt, sondern vielmehr als gesund gilt, sind sich Russland und die USA ausnahmsweise einmal einig: Die Nase soll am Klo geputzt werden. Im schlimmsten Fall muss der Schnupfen eben hochgezogen werden. Während meines Auslandssemesters in den USA war ich höchst irritiert über die schniefenden Studierenden in den Hörsälen, die mich wiederum irritiert ansahen, wenn ich mir wie selbstverständlich die Nase putzte. Sie dachten, ich sei grauslich – ich aber fühlte mich total überlegen und war überzeugt, die anderen würden alle Mittelohrentzündungen bekommen.
Lange Zeit wurde hierzulande nämlich emsig von der Praxis des Rotz-Raufziehens mit dem Argument abgeraten, der Schleim würde in den Nebenhöhlen oder in den Ohren zu Entzündungen führen. Die neueste medizinische Erkenntnis besagt genau das Gegenteil: Durchs Schnäuzen gelangen die Bakterien erst in die Nebenhöhlen. Beim Raufziehen hingegen gelangen die Bakterien in den Magen, wo sie gänzlich unbedenklich sind.
Ein medizinischer Freibrief für Mukophagie (ein wunderbares Wort für die Gewohnheit des Verspeisens des Nasensekrets)? Der Popel ist gesund und darf also bedenkenlos gegessen werden. Schließlich tun es die Affen und die Kinder auch – und die wissen noch, was gesund ist. Doch anständig ist das Rotz-Essen nicht. Kaum welche, die es zugeben. Seltsam, wenn bedacht wird, dass 91 Prozent der Bevölkerung in der Nase bohren, wie eine Studie ermittelte. Wohin sonst mit dem Popel nach dem genüsslichen Bohren in der Nase? Zum Kügelchen formen und wegschnipsen – das ist laut meiner inoffiziellen Recherchen eine weit verbreitete Variante. Das elegante In-ein Taschentuch-Wischen macht praktisch fast niemand.
Auch wenn das Rausholen des getrockneten Schleims aus den Nasenlöchern erstaunlich befriedigend sein kann, gerade wenn der Rotz die richtige Konsistenz hat, zu viel des Guten soll es auch nicht sein. Krankhaftes Nasenbohren erlangte im ICD10 (Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten) den Status einer eigenständigen Pathologie: die Rhinotellexomanie. Die Nasenscheidewand kann durch exzessives Bohren durchbrochen werden. Doch auch das Schnäuzen kann gefährlich sein: Laut Spiegel brach sich eine Frau dabei die Augenhöhlen. Also, Vorsicht ist geboten im Umgang mit dem Nasenschleim.
Und manchmal ist der Rotz schon auch einfach eklig. Es ist ein schmaler Grat zwischen Lust und Ekel, wenn zum Beispiel so ein herziges Kleinkind dir ein verrotztes Bussi gibt. Aber gut, im Umgang mit Babys verändert sich die Beziehung zu allen Körpersäften. Manche Leute saugen tatsächlich den Rotz aus Babys Nase. Für mich eine viel schlimmere Vorstellung, als selbst zum Ganzkörper-Taschentuch zu mutieren. Aber so sind die Leute halt verschieden. Manche Eltern bloggen sogar darüber, wie sie ihrem Kind das Naseputzen ganz nach Montessori beigebracht haben, inklusive Fotostrecke!
Rotz hin oder her, rauf oder runter, gegessen oder elegant verpackt, der Rotz scheint einfach kein politisch umkämpfter Körpersaft zu sein – auch Feministisches gibt es wenig dazu zu sagen. Schade eigentlich.
Zum Abschluss noch ein Anekdötchen zu Rotzloch, einem tragischen Ort in der Schweiz. Die dortigen Stollen wurden während des Nationalsozialismus als sicherer Ort für Kunstsammlungen verwendet – wer sucht auch schon Wertvolles in Rotzloch?