Neue Allianzen gegen rassistischen Terror und Faschismus
Im Mai und Juni 2006 protestierten Familien, deren Angehörige vom rechtsterroristischen Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) ermordet worden waren, in Kassel und Dortmund. Sie trugen Portraits ihrer ermordeten Familienmitglieder und forderten auf Transparenten „Kein 10. Opfer“. İsmail Yozgat, dessen Sohn Halit einen Monat zuvor in seinen Armen gestorben war, appellierte in seiner Rede vor dem Kasseler Rathaus eindringlich an das hessische Innenministerium, endlich das Leid der Angehörigen zu sehen und die Mordserie zu stoppen. Doch anstatt die klare Botschaft der Angehörigen ernst zu nehmen, dass die Täter*innen Neonazis waren, verleumdeten die Ermittlungsbehörden, Verfassungsschutz und Politik die Betroffenen, erklärten die Opfer zu Täter*innen, schredderten Akten und verhindern bis heute aktiv die Aufklärung der Taten.
Fünf Jahre später enttarnte sich der NSU im November 2011 selbst. Jahrelang ermordete ein Neonazi-Netzwerk „unbemerkt“ nachweislich neun migrantische Kleinunternehmer und eine Polizistin, verübte drei Bombenanschläge mit vielen Schwerverletzten und zahlreiche Banküberfälle. Trotz vieler parlamentarischer Untersuchungsausschüsse und eines Gerichtsprozesses, der sich über 438 Verhandlungstage hinzog, ist die rassistische Terrorserie bis heute nicht lückenlos aufgeklärt. Die drängende Frage der Angehörigen, warum ausgerechnet ihre Familienmitglieder ermordet wurden, wurde nicht beantwortet. Ebenso wenig, wer vor Ort Beihilfe zu den Morden leistete. Auch ist die Frage nach der Verstrickung staatlicher Institutionen, insbesondere des Verfassungsschutzes, der über 40 bekannte V-Personen im Umfeld der NSU-Kernzelle führte, weiterhin unbeantwortet.
Zuhören als politische Praxis
Trotz des umfassenden antifaschistischen Recherchewissens über rechtsterroristische Neonazi-Strukturen, der Pogrome in Rostock-Lichtenhagen, der Brandanschläge von Mölln und Solingen standen nur wenige Menschen solidarisch an der Seite der Betroffenen. Als Reaktion auf das eigene und gesellschaftliche Wegsehen und Nicht-Zuhören, der immer noch andauernden Sabotage der vollständigen Aufklärung der Morde durch Ermittlungsbehörden, Verfassungsschutzämter und Politik, organisierte sich eine neue zivilgesellschaftliche Gegenbewegung in Deutschland.
Die Perspektive der Betroffenen, ihre Geschichten und Forderungen nach Aufklärung, Gerechtigkeit, Entschädigung und eine würdevolle Erinnerung an ihre Angehörigen sind der Ausgangspunkt dieser Bewegung. In vielen Städten gründeten sich lokale Initiativen, die gemeinsam mit den Betroffenen die Mord- und Bombenanschläge aufarbeiten. Das Wissen der Betroffenen ist dabei zentral, denn sie waren es, die trotz der Opfer-Täter-Umkehr von Polizei und Medien es immer gesagt hatten: Es waren Neonazis.
Initiativen in Kassel, Hamburg, Nürnberg, Köln und Halle (Saale) und in vielen anderen Städten kämpfen für Aufklärung, für die Umbenennung von Plätzen und Straßen nach den Opfern, organisieren Veranstaltungen und Demonstrationen und haben mit antifaschistischen Gruppen ein umfassendes Wissen über rechtsterroristische Netzwerke zusammengetragen. Gemeinsam mit Gruppen wie NSU-Watch begleiten sie die juristische und parlamentarische Aufarbeitung und etablieren ein gesellschaftliches Wissen, das mit dem offiziellen Narrativ bricht, der NSU sei ein isoliertes Trio mit wenigen Helfer*innen gewesen.
Die Gesellschaft der Vielen
Ein Meilenstein für diese Bewegung war das Tribunal NSU-Komplex auflösen im Mai 2017 in Köln. Fünf Tage lang kamen Überlebende und Betroffene rassistischer Gewalt mit hunderten Teilnehmer*innen zusammen, um gemeinsam zu trauern und Rassismus anzuklagen. Die Berichte der Betroffenen und Angehörigen des NSU-Terrors standen im Mittelpunkt. Ihre Bereitschaft öffentlich ihre Erfahrungen und ihr Wissen zu teilen, ermöglichen eine neue Form des politischen Aktivismus. Über viele Stunden und oft das erste Mal hörten die Besucher*innen beim Tribunal jenen zu, die sonst nicht sprechen durften oder deren Forderungen jahrelang ignoriert worden waren. „Zuhören als politische Praxis“ wurde zu einem Grundbaustein einer neuen aktivistischen Praxis. Bewohner*innen und Geschäftsleute aus der Kölner Keupstraße berichteten von dem Nagelbombenanschlag, den darauffolgenden rassistischen Ermittlungen gegen sie selbst, der „Bombe nach der Bombe“ und forderten ein Mahnmal auf der Keupstraße. Auch Ibrahim Arslan, Überlebender der Brandanschläge von Mölln 1992 forderte in seiner Rede die Stimme der Betroffenen in der Erinnerungspolitik ernst zu nehmen. Indem sich die Erzählungen verschiedener Generationen von Rassismus-Betroffenen verbanden, wurden nicht nur die strukturellen Muster von rassistischer Gewalt und Ausbeutung offengelegt, es entstanden neue Formen und eine neue Sprache des politischen Aktivismus.
Trotz der katastrophalen Schäden, die der NSU-Komplex bei den Angehörigen der Opfer und in den betroffenen Communities angerichtet hat, lassen sich in der kontinuierlichen Aufarbeitung des Terrornetzwerkes Formen einer politischen Praxis erkennen. Sie spenden Hoffnung und geben Einblick in die „Gesellschaft der Vielen“. Der Begriff dient als kritischer Verweis auf die Gesellschaft der Gegenwart, in der Migration seit Generationen verankert und unumkehrbar ist. Er ist eine Gegenerzählung zu dem alteritären Gesellschaftskonzept, in dem „Integration“ seit Jahrzehnten von einer sogenannten weißen Mehrheitsgesellschaft als Allheilmittel propagiert wird. Den Migrantisierten wird diese geforderte Form der Integration durch alltägliche Schikane und strukturelle Diskriminierung jedoch verunmöglicht. Weder ihr Verhalten noch ihre Herkunft sind der Grund für den rassistischen Grundkanon in der Gesellschaft, sondern die verweigerte Anerkennung der Migration als gesellschaftlicher Normalzustand.
Die „Gesellschaft der Vielen“ formuliert aber auch einen kämpferischen, positiven Zukunftsentwurf. Neben den neuen Formen des politischen Aktivismus ist es hierfür notwendig, durch enges transdisziplinäres Zusammenarbeiten auch Akteure außerhalb aktivistischer Diskurse einzubinden.
Case Study auf der Documenta
Bereits vor und umso stärker nach dem Tribunal in Köln hat sich gezeigt, dass eine solidarische Zusammenarbeit von antifaschistischen Gruppen, Betroffenen-Initiativen, Wissenschaftler*innen, den Anwält*innen der Nebenklage und Angehörigen des Kulturbetriebes möglich ist. Ihre Erfolge zeigen sich in den vielen, untereinander gut vernetzten lokalen Initiativen, die aus dem gemeinsamen Erinnern mit den Angehörigen heraus politische Forderungen laut machen.
Die Untersuchungen von Forensic Architecure am Mord von Halit Yozgat in Kassel 2006 beweisen, dass der Verfassungsschützer Andreas Temme, der damals am Tatort war, als Zeuge gelogen hat. Sie legen sogar die Vermutung nah, dass Andreas Temme an dem Mord beteiligt gewesen ist. Als Beweismittel wurden sie im Gerichtsprozess abgelehnt. Die Videodokumentation der Case Study wurde auf der documenta 14 zum Publikumsmagnet. Die große mediale Strahlkraft der Arbeit zeigt, wie Wissenschaft und Kunst gemeinsam aktivistisch wirken können.
Auf dem Tribunal wurden auch rassistische Fehlstellen im juristischen Bereich beklagt und Reformierungen eingefordert. Wie etwa die Einführung eines hate crime-Paragraphen, der es endlich ermöglichen würde, Rassismus als Straftatbestand zu ahnden, die Einrichtung einer unabhängigen Polizeibeschwerdestelle, die den rassistischen Ermittlungsbetrieb in den deutschen Behörden dokumentiert und anfechten kann, sowie die Abschaffung des Verfassungsschutzes.
Neue Allianzen
Einzelne Protagonist*innen des NSU-Komplexes mögen verurteilt worden sein. Dem strukturellen Rassismus innerhalb weiter Teile der Gesellschaft hat das keinen Einhalt geboten. Den Erfolgen und Errungenschaften der neuen Initiativen und Allianzen stehen auf politischer Ebene unheilvolle Wahlergebnisse in Sachsen, Brandenburg und Thüringen gegenüber, hasserfüllten Wortmeldungen, die auf allen medialen Kanälen zirkulieren, folgen weiterhin grausame Taten. Die viel zu milden Urteile in München, das zeigen der Mord am hessischen CDU-Politiker Walter Lübcke im Juni 2019, der Mordanschlag auf Bilal M. Ende Juli in Wächtersbach, die anhaltenden Morddrohungen gegen die NSU-Nebenklage-Anwältin Seda Başay-Yıldız sowie das Attentat am 9. Oktober in Halle (Saale), schrecken nicht ab. Sie geben den Rassist*innen vielmehr einen Vorschub und zeigen, dass ihre menschenfeindliche Gewalt staatlicherseits kaum geahndet wird. Die Diversität der Angriffsziele – ein konservativer Politiker, eine Synagoge, ein als migrantisch geltender Dönerimbiss – bezeugen, dass die Klammer dieses rassistischen und antisemitischen Hasses die Weigerung ist, anzuerkennen, dass jede Gesellschaft eine Gesellschaft der Migration ist und das die Idee einer kulturellen Homogenität, einen Entwurf von Vergangenheit und Gegenwart enthält, der niemals wahr war und niemals wahr sein wird.
Neue Allianzen zwischen migrantischen, antirassistischen und antifaschistischen Gruppen, wie das Bündnis United Solidarity zeigen, wie die Antwort auf rechten Terror, die Institutionalisierung faschistischer Parteien und die Entrechtung von Geflüchteten aussehen kann. Der gemeinsame Parade-Power-Block „Solidarität verteidigen!“ auf der unteilbar-Demonstrationen im August 2019 in Dresden war ein eindrucksvoller Ausgangspunkt für die noch engere Verbindung verschiedener sozialer Kämpfe. An der Spitze des Demonstrationszuges liefen die Betroffenen selbst, riefen ihre Forderungen und nahmen einmal mehr und umso lauter den ihnen zustehenden Platz ein. Die Power der neuen Allianzen zeigte sich auch Anfang November beim diesjährigen Tribunal in Chemnitz und Zwickau. Dort, wo vor einem Jahr Hetzjagden auf Migrant*innen stattfanden und das NSU-Trio jahrelang unbehelligt leben konnte, wurde gemeinsam Rassismus angeklagt, die Gesellschaft der Vielen gefeiert und ein gutes Leben für alle eingefordert.