MALMOE

Unter den Teppich sehen

Zwei Geschichtswerkstätten in Chemnitz und Zwickau widmen sich der ­lokalen ­Aufarbeitung des NSU-Komplexes

Nach der Selbstenttarnung des NSU nahm die antifaschistische und journalistische Recherche zahlreiche Verstrickungen und Fehlleistungen von Behörden in den Blick. Doch versagt hatte angesichts der ungeheuerlichen Verdächtigungen und kontinuierlichen Restriktionen gegen die Angehörigen der Ermordeten letztlich die gesamte weiß-deutsche Mehrheitsgesellschaft. Besonders in den überschaubaren Städten Zwickau und Chemnitz erscheint die Nichtentdeckung des neonazistischen Terrornetzwerkes NSU aus heutiger Perspektive und mit dem aktuellen Wissensstand unfassbar. Als Beitrag zur Aufarbeitung der lokalen Netzwerke von NSU-Unterstützer*innen hat das Kulturbüro Sachsen 2017 die Broschüre „Unter den Teppich gekehrt“ herausgegeben.

Es sind Sozialarbeiter*innen, Schüler*in­nen und Student*innen, die seit 2016 in Chem­nitz und seit 2018 in Zwickau Geschichten rund um den NSU-Komplex sammeln. Ihr Ziel ist, mahnend an das mörderische Wirken, aber auch das unbehelligte Wohnen und Leben des NSU-Kerntrios in Sachsen zu erinnern. Gemeinsam mit zivilgesellschaftlichen Initiativen gründeten die Akteur*innen zwei Geschichtswerkstätten.

Angeschoben wurde die Werkstatt in Chemnitz von Sozialarbeiter*innen. Sie wollten ihren Kolleg*innen, die bereits in den 90er-Jahren in der Jugendarbeit beschäftigt waren, Reflexionen über ihre damalige Arbeit ermöglichen. Einrichtungen wie der offene Jugendtreff Piccolo waren in den 90er-Jahren als Hotspot der Neonazis bekannt. Dessen Mitarbeiter*innen praktizierten damals „akzeptierende Jugendarbeit“. Eine äußerst fragwürdige Methode aufgrund des damit einhergehenden Empowerments eines Täter*innensystems.

In Zwickau bemühen sich seit 2011 die Akteur*innen um eine Verantwortungsübernahme für die Nichtentdeckung der NSU-Terrorist*innen. In der Geschichtswerkstatt Zwickau sind junge Menschen aktiv, die in ihrem unmittelbaren persönlichen Umfeld mit den Familienangehörigen und den Täter*innen aus dem NSU-Komplex umgehen müssen. Sie wollen nicht, dass alle in ihrer Stadt einfach so tun können, als hätte das NSU-Kerntrio rein zufällig zwischen ihnen gelebt. Sie wollen die Ursachen des Wegsehens und des Nichthandelns verstehen.

Die Akteur*innen der Werkstätten besuchten den NSU-Prozess in München, sprachen mit Mitarbeiter*innen von Untersuchungsausschüssen. Die Werkstätten waren auf Bildungsfahrten in Kassel, Berlin, München und Nürnberg, um sich mit Initiativen vor Ort auszutauschen und zu vernetzen.

Entstanden sind daraus Ausstellungen zu den Wohn- und Ereignisorten mit NSU-Bezug in Chemnitz und Zwickau, Workshops zur Sensibilisierung für den Umgang mit dem NSU-Komplex sowie ein App-basierter Stadtrundgang zum NSU im Chemnitzer Stadtteil Kaßberg.

Für die nächste Zeit sind weitere App-basierte Stadtrundgänge in Zwickau und Chemnitz geplant. Dazu fanden bereits Fotostreifzüge und Textsammlungen statt. Die Werkstätten kooperieren hierzu mit Akteur*innen anderer Städte, etwa dem Schauspiel Chemnitz. Vom 1. bis 3. November fand das 3. Tribunal des bundesweiten Netzwerks „NSU-Komplex auflösen“ in Chemnitz und Zwickau statt. Die Geschichtswerkstätten und das Kulturbüro Sachsen waren sowohl organisatorisch als auch inhaltlich gestaltender Teil davon. Dabei war wichtig, (post-)migrantische und rassismuskritische Initiativen aus Sachsen sichtbar zu machen. So sprachen auf dem Tribunal unter anderen Vertreter*innen des Arabischen Vereins für Kultur und Integration und Vertreterinnen der Geschichtswerkstatt Zwickau.

In den Stadtgesellschaften von Chemnitz und Zwickau zeigen bisher wenige Menschen Wertschätzung für dieses Engagement. Deshalb ist es für die Akteur*innen vor Ort eine große Bestärkung, Rückhalt von Aktivist*innen aus anderen Gegenden der Welt zu erfahren.