Rassistische Pogrome, Brandanschläge und Asyleinschränkungen. Über die Schattenseiten seit der Zusammenführung der beiden deutschen Staaten 1990 wird auch zum 30. Jubiläum des Mauerfalls nur wenig berichtet
In der Bundesrepublik Deutschland wurde jüngst der 30. Jahrestag des Mauerfalls gefeiert. Ich verbrachte diesen Tag mit einer Freundin, die mir erzählte, dass der 9. November in ihrer Schule als „Schicksalstag der Deutschen“ bezeichnet wurde. Ich war ehrlich entsetzt. Die Reichspogromnacht 1938 und den Mauerfall 1989 in einen Topf zu werfen, schien mir unmöglich. Dabei ist diese Gleichsetzung beispielhaft für die Konstruktion einer deutschen Mehrheitsgesellschaft, die sich durch den Ausschluss und der Verleugnung der tatsächlich Leidtragenden inszeniert. Auch im Taumel der deutsch-deutschen Feierlichkeiten wird in diesem Zusammenhang wenig über die rassistischen und antisemitischen Kontinuitäten in der Vor- und Nachwendezeit berichtet. Dabei gäbe es angesichts der aktuellen Zustände Gründe genug, das Jubiläumsjahr zum Anlass zu nehmen, auf Leerstellen zu verweisen, deren Folgen wir gegenwärtig in dramatischer Regelmäßigkeit erfahren.
Wenn sich der Beitritt der DDR zur BRD im kommenden Jahr jährt, werde auch ich dreißig Jahre alt. Bereits anhand der Stationen meines Lebens lässt sich ein historischer Zusammenhang rassistischer Gewalt im vereinten Deutschland von der Wiedervereinigung bis in die Gegenwart nachzeichnen. Meine Geburtsstadt Hoyerswerda ist bekannt für das erste Pogrom nach dem Mauerfall 1991. Fast eine Woche lang griffen mehrere hundert Menschen aus rassistischen Motiven ein Wohnheim für Vertragsarbeiter_innen und ein Asylwohnheim an. Die Angriffe erfolgten zeitgleich im Kontext der Asyldebatte Anfang der 90er-Jahre zwischen den Unionsparteien sowie FDP und SPD. Die parlamentarische Auseinandersetzung folgte zeitgleich einem medialen Diskurs, in dem Migration und migrantisches Leben verstärkt als Problem wahrgenommen wurde. 1993 kam es durch eine Zweidrittel-Mehrheit im Bundestag zum sogenannten Asylkompromiss, der die Einbürgerung vieler sogenannter Gastarbeiter_innen und ihrer Familien, die seit Jahrzehnten in der BRD lebten, massiv erschwerte. Das Asylrecht aus Artikel 16 des Grundgesetzes wurde praktisch abgeschafft und unter drastischen Einschränkungen erneuert. Ab sofort sollten Menschen, die auf dem Landweg aus Drittstaaten oder aus einem „sicheren“ Herkunftsland nach Deutschland einreisen wollten, an der Staatsgrenze zurückgeschickt werden. Auch in den neuen Bundesländern endeten die Arbeitsverträge und die Aufenthaltserlaubnis der dort lebenden Vertragsarbeiter_innen, woraufhin viele unfreiwillig in ihre Herkunftsländer zurückkehren mussten.
Den Pogromen in Hoyerswerda folgten bundesweit rechte Gewalttaten und Morde, unter anderem in Rostock Lichtenhagen, Solingen und Mölln. Opfer dieser Anschläge wurden Familien damaliger Gastarbeiter_innen, Vertragsarbeiter_innen, People of Color, Asylbewerber_innen aber auch Punks und Obdachlose. All diejenigen also, die nicht zum Teil der deutsch-deutschen Vereinigung gehören sollten und von der weißen Mehrheitsgesellschaft ausgeschlossen wurden.
Von der Wiedervereinigung zum NSU
Die rassistischen Pogrome der 90er-Jahre schufen ein Klima, in dem das rechte Netzwerk rund um den späteren NSU-Komplex ungestört wachsen und sich rechte Strukturen ungeachtet von gesellschaftlichen Institutionen entwickeln konnten. In Jena verbrachte ich meine ersten Partys in dem Jugendclub, in dem sich zehn Jahre zuvor regelmäßig bekannte Mitglieder des NSU trafen. Dort planten sie ihre ersten antisemitischen und rassistischen Anschläge und nutzten die Strukturen des Jugendclubs für bundesweite Vernetzungstreffen und Konzerte der rechtsradikalen Szene. Nach dem Abitur zog ich nach Leipzig, wo seit 2015 auf dem Augustusplatz die Legida-Demonstrationen stattfanden, einem Ableger der Dresdner Pegida. Ein Rechercheprojekt über rechte Netzwerke der taz zeigt: Viele derjenigen, die bereits in den 90er-Jahren in rechten Strukturen aktiv waren, marschierten dort mit und sind mitunter heute durch die AfD in den Parlamenten vertreten. Meine Studienzeit verbrachte ich in Halle an der Saale und Kassel. Seit dem 9. Oktober steht Halle aufgrund des rechtsradikalen Terroranschlags in den Schlagzeilen.
Was also in den Jugendclubs von Jena begann, setzte sich als bundesweites Netzwerk fort. Der NSU konnte ein Jahrzehnt lang ungestört morden und besteht durch seine Kompliz_innen auch nach der Selbstenttarnung weiter. Auch in Kassel machte er Station: 2006 wurde Halit Yozgat in seinem Internetcafé zum neunten bekannten Mordopfer des NSU. Zur Tatzeit anwesend war auch der Mitarbeiter des hessischen Landesamtes für Verfassungsschutz Andreas Temme. Trotz zahlreicher Beweise für seine Mitwisserschaft am geplanten Mord, wurde er nicht verurteilt und arbeitet bis heute unbehelligt für das Regierungspräsidium Kassel. Am 2. Juni dieses Jahres wurde der CDU-Politiker und Präsident eben jenes Regierungspräsidiums, Walter Lübcke, mutmaßlich von einem Täter ermordet, dessen Name antifaschistischen Recherchen wie Exif zufolge bereits im Zusammenhang des NSU erwähnt wurde und der seit dem Jahr 2000 ein bekannter Neonazi ist.
Diese Ereignisse stellen nur einen Bruchteil der rassistischen Gewalt in Deutschland seit dem Mauerfall dar. Der Begriff „Wiedervereinigung“ drängt daher unweigerlich die Frage auf, wer vereinigt wurde und unter welchem Ausschluss diese stattfand?
Aufarbeitung der deutsch-deutschen Geschichte
Die rassistische Kontinuität der letzten dreißig Jahre macht deutlich, dass mit dem damaligen Slogan „Wir sind ein Volk“ ein Ihr konstruiert wurde, welches an den Feierlichkeiten nicht teilnehmen sollte. Der Preis des Zusammenhalts in der Mehrheitsgesellschaft Nachwendedeutschlands sind der NSU-Komplex, Halle und all die vergangenen und kommenden rassistischen Gewalttaten, denen auf staatlicher Seite nach wie vor nur unzureichend nachgegangen wird. Die rassistischen Brandanschläge in Mölln und Solingen, die westdeutschen Unterstützungsstrukturen des NSU und der Mord an Walter Lübcke machen deutlich, dass es sich dabei nie um ein ausschließliches Problem der neuen Bundesländer gehandelt hat.
Diese „Wiedervereinigung“ ist daher für viele kein Grund zum Feiern. Für eine antirassistische Gesellschaft ist die Aufarbeitung der deutsch-deutschen Geschichte mit ihren Bezügen zur Gegenwart dringend notwendig. Sie kann nur in Verbindung mit einer öffentlichen Auseinandersetzung und Analyse der rassistischen und antisemitischen Zustände in der Historie der BRD und DDR stattfinden. Darin müssen vor allem die Perspektiven und das Wissen derer sichtbar gemacht werden, auf deren Rücken die „Wiedervereinigung“ ausgetragen wurde.
Glücklicherweise gibt es seit jeher Widerstand durch migrantische und antifaschistische Gruppen und immer mehr Initiativen und Einzelpersonen, die ihre Geschichten und Analysen in den öffentlichen Diskurs einbringen. Bis diese jedoch in den gesellschaftlichen Kanon eingehen, braucht es noch einen langen Atem.