Becoming Digital (0x0E)
Wir erleben „die Verfinsterung des digitalen Traums, […] dessen Mutation zu etwas, das ich Überwachungskapitalismus genannt habe“, postulierte die Wirtschaftsphilosophin Shoshana Zuboff Mitte November bei einem Podiumsgespräch in der Wiener Arbeiterkammer. Es scheint dies ein, vor allem unter den in den 1960er und 70er Jahren Sozialisierten, gerade sehr gängiges Narrativ zu sein: Die in ihrem Ursprung blütenreinen Utopien des Silicon Valley wurden gekapert; werden missbraucht zu etwas Neuem, Dunklen, dem neoliberalen Turbokapitalismus Entspringenden.
In dieser Erzählung werden meist vor allem zwei Dinge herausgestellt:
Zum einen die deklarativen Taktiken der ExponentInnen der (eigentlich gar nicht mehr so) neuen Technologien. Will sagen: Der bisherige Rechtsraum hat für sie keine Gültigkeit mehr. Sie machen sich ihre eigenen Gesetze. Besonders gut lässt sich dies anhand der Bereiche Privatsphäre und Arbeitsrecht demonstrieren, in denen sich die Schaffung beinahe vollständig rechtsfreier Räume kaum abstreiten lässt. Tatsächlich sind weder die Beschneidung von Bürger*innenrechten (denn nichts anderes ist das ungewollte, teils auch unbemerkte Eindringen in die Privatsphäre) noch die Verletzung hart erkämpfter Regulierungen des Arbeitsmarktes besonders neue Aspekte von Konflikten im Kapitalismus. Der zweite Erzählstrang schildert die massive Bündelung ganzer Wirtschaftszweige zu unbezwingbaren Monopolkonzernen. Auch dies ist im Kern kein neues Motiv, und definitiv keines, zu dem es digitaler Technologien bedarf. Unbestritten ermöglicht die Vernetzung der Welt eine wesentlich beschleunigte Globalisierung. Der Kolonialismus des 19. Jahrhunderts aber hat Monopole, Ausbeutung und wirtschaftliche Globalisierung auch ganz ohne sie hervorgebracht.
So weit, so gut. Wir haben erkannt, dass Technologie nicht das eigentliche Problem ist. Bedenkt man, worum sich Diskussionen zum Thema noch vor fünf Jahren drehten; ein großer Schritt nach vorn!
Worin aber bestand jener „digitale Traum“, den die Boomer Generation nun so kapitalistisch verfinstert sieht? Gute Anhaltspunkte jenseits von TED-Talks und Designphilosophien liefern die, wenn auch nicht zahl-, so doch aufschlussreichen Schriften aus den Entstehungsjahren des Silicon Valley. Deren bemerkenswerteste Sammlung ist der bezeichnenderweise zunächst als Produktkatalog für verstreute Hippiekommunen konzipierte Whole Earth Catalog, der sich schnell zur publizistischen Plattform der Gegenkultur Kaliforniens entwickelte. Neben einem Sammelsurium an Outdoor-Überlebenstipps und Gärtnerei-Empfehlungen enthielt er Schriften zu Kybernetik, Esoterik, Psychologie und Philosophie – zu allem, was man für eine Patchwork-Ideologie eben so braucht. Bemerkenswert gut aufgearbeitet in einer Ausstellung vor einigen Jahren, stellt der Kurator Anselm Franke in seinem begleitenden Aufsatz Earthrise und das Verschwinden des Außen (1) zwei Aspekte heraus, die erstaunlich gut zu den nunmehr so dominant gewordenen Erzählsträngen, der angeblich gekaperten Digitalisierungsutopien, passen: Zum einen durchzieht den Whole Earth Catalog in all seiner Diversität für Franke eine gemeinsame Ablehnung von Hierarchien und Autoritäten. Die Suche nach „outlaw areas”, nach unregulierten, unregierten Territorien ist beinahe allen Schriften gemeinsam. Demgegenüber zieht sich jedoch ebenso durch alle Schriften das Motiv der Grenzüberschreitung, der Entdeckung (und in der ein oder anderen Form auch Kolonisierung) von Neuem. Ob nun der von Menschen besiedelte Mars oder die durch LSD zugänglich gewordene vierte Dimension, die „Romantisierung des ‚Außen‘ als Raum unbegrenzter Freiheit” findet sich in Science Fiction Sagas und Aussteiger-Literatur beinahe unverändert bis heute wieder. Es braucht keine intellektuellen Saltos, um diese Aspekte mit den Erzählsträngen vom verfinsterten digitalen Traum in Verbindung zu bringen.
Es hat ein Weilchen gedauert, um klarzustellen, dass digitale Technologien an sich nicht die (einfach zu dämonisierende) Nemesis sind, die wir gerne hätten. Nun müssen wir verinnerlichen, dass die Kultur, die uns diese Technologien (im besten Sinne) beschert hat, auch die Elemente der gegenwärtigen Dystopien schon in sich trug.
(1) Anselm Franke, Diedrich Diederichsen: The Whole Earth. Kalifornien und das Verschwinden des Außen, Sternberg Press, Berlin 2013