Allerheiligen
Österreich, am Land, am ersten November. Das ganze Dorf ist mit Autos zugeparkt und Massen tummeln sich auf dem Friedhof, um jener zu gedenken, die den letzten großen Schritt bereits vollbracht haben. Über die Gräber hat sich ein Lichtermeer aus Kerzen ergossen. Jede Familie scheint sorgsam bedacht, die Grabplatten hell erstrahlen zu lassen. Eine gewisse Lust am Gedenkwettbewerb kann erahnt werden. Nach Einbruch der Dunkelheit sehen die letzten Ruhestätten prächtig im Kerzenschein aus, zu schade, dass die Hauptpersonen dies nicht mehr sehen können. Während die herbeigereisten Familienmitglieder sich zu den Kompostplätzen ihrer Lieben gruppieren, kramt der Pfarrer die eigens vorbereitete Rede heraus, die über eine makellos beschallende PA-Anlage den letzten Winkel des Totenackers erreicht. Dann stapft er los und besprenkelt die Gräber mit Weihwasser. Detail: Die Hand des Priesters ist mit Mull und Pflastern verbunden, hinterlässt dieses besondere Wasser bei manchen Verbrennungen? Während er Weihwasser spritzend noch das letzte Grab abgeht, erhebt sich ein Gedröhn. Auf dem nahegelegenen Feld beginnt ein Traktor seine Arbeit und bringt Gülle aus. Eindrucksvoller lässt sich nicht illustrieren, dass man auf die Religion scheißt, als genau jetzt Kuh- und Schweinedung zu versprühen. Niemand stört sich daran. Der Landwirt im Trecker wird sicherlich kein Moslem sein und es zeigt sich eben, dass die Traditionen am Land allseits überkommen sind. „Unsere Kultur“, die angeblich gegen das Fremde verteidigt werden muss, geht den Anwesenden, die teilweise noch angesoffen sind von der vorabendlichen Halloween-Party, nicht allzu tief. Dies darf aber nicht als Erfolg der Aufklärung fehlinterpretiert werden. Es ist einfach die unbedarfte Flexibilität gegenüber den Verhältnissen, die teils sympathisch, weil unideologisch, teils erschreckend, weil ihre Ideologie verkennend ist. Denn schließlich wird der Herr auf seiner Kacke-spritzenden Landmaschine Nebenerwerbsbauer sein, der zu ununterbrochener Arbeitsleistung verdammt ist, teils aus monetärer Not, teils wegen der sozialen Kontrolle und teils aus blankem Wahn. Jenen, die zwischen sich und diese Gesellschaft zwei Meter österreichische Erde gebracht haben, lässt sich nur zurufen: „Ruhet in Frieden“.
Allerseelen
Eine Forschungsgruppe rund um den New Yorker Psychologen Sheldon Solomon griff die Thesen des US-Kulturanthropologen Ernest Becker der symbolischen Verarbeitung der Todesangst auf und entwickelte daraus politisch brisante Experimente. Die Grundthese der US-Forscher*innen postuliert, dass die sogenannten Death Reminder Routinen entwickeln, innerhalb deren sie Menschengruppen an deren Sterblichkeit und die Unausweichlichkeit des eigenen Todes erinnern. Dies geschieht in der Religion und jeder Mensch in katholischen Regionen kennt die Prozessionen, in denen die Gemeinde wie geschlagene Hunde um die Häuser zieht und ruft: „Mutter Gottes, bitte für uns Sünder, jetzt und in der Stunde unseres Todes.“ Es geschieht aber auch in der Politik, die die Gruppenidentität der Nation als „höheres“ und damit den Tod übersteigendes Ziel ausgibt, wie aktuell der wahlwerbende Boris Johnson die „Englishness“ als eine höhere Lebensform propagiert, für deren Erhalt frühere Generationen ihr Leben hätten lassen müssen. Gleiche Versuche gibt es in Deutschland und Österreich, sie müssen abstrakter bleiben und von der Höhe der „Kultur“ reden, schlicht weil der letzte Krieg unehrenhaft verloren ging – gemeint ist aber bei Nation und Kultur das gleiche Prinzip. Auffällig ist laut Solomon nun, dass wenn Proband*innen mit dem Gedanken an den eigenen Tod durch gezielte Fragen oder Bilder von Beisetzungen erinnert wurden, sie sich im weiteren Verlauf des Experiments abwehrend gegen Migration zeigten. Unbewusst suchten die Teilnehmer*innen die Nähe zu Personen gleicher Nation oder Religion, weil die Fremden die Erzählung der eigenen nationalen oder religiösen Todesüberwindung gefährden. Überweltlichkeit und Pluralität passen nicht zusammen. Für Dinge, die sie zuvor abgelehnt hatten, zeigten die Proband*innen plötzlich Verständnis. Iraner*innen rechtfertigten Selbstmordattentate, US-Amerikaner*innen gaben Atom- und Giftgasbomben als sinnvollen Schutz gegen die Bedrohung Amerikas aus. Die Forscher*innengruppe konnte belegen, dass das ganze Arsenal des Rechtspopulismus durch geschürte Todesangst verstärkt wird. Ihr Schluss, dass über den Tod gerne redet, wer Menschengruppen kontrollieren will, scheint sehr plausibel. Death Reminding ist ein Herrschaftsinstrument und deswegen sind freie Menschen dazu eingeladen, frivol auf den Tod zu pfeifen.
Neulich in der Begegnungszone
„Des is jo ärger wia in Holland“, empören sich zwei ältere Damen auf der Mariahilfer Straße über beiderseits an ihnen vorbeirollende Fahrradfahrer*innen, die hier „alle Freiheiten“ hätten. Holland ist für seine Probleme mit dem Radverkehr bekannt – hört man immer wieder. Zugegeben, es gibt Raum für Verbesserung, was die gegenseitige Rücksichtnahme unter den Verkehrsteilnehmer*innen betrifft. In Wien ist man den Nahkampf im Straßenverkehr irgendwie einfach gewöhnt. Auch wird es auf der Mahü gerade etwas eng in der Fußgängerzone, weil neben den Liefer-LKWs und den mahnend abgestellten Polizeiautos auch noch reihenweise Punschhütten Platz finden sollen. Die große Aufregung, die jeder neue Radweg und jede Initiative zur Verkehrsberuhigung auslöst, müsste dennoch mal psychologisch näher ergründet werden. Weil wo kommen wir da hin, wenn wir jetzt den Autos den öffentlichen Raum wegnehmen?
Fatale Normalisierung
Die australische Journalistin Lenore Taylor hat sich die aufopferungsvolle Mühe gemacht, bei einer Pressekonferenz einmal aufzuschreiben, was Donald Trump tatsächlich sagt. Hier ein paar Kostproben: Da sei eine Mauer, die sei so hart, dass drei ausländische „Mauerbauer“ sie haben sehen wollen, um zu sehen, wie hart sie sei. (Es ließ sich nicht klären, wer diese drei ausländischen „Mauerbauer” sind, die die Härte einer Mauer sehen wollten, die es nicht gibt.) Es sei noch niemals aus Beton etwas so Hartes hergestellt worden, es halte Feuer aus und man könne ein Spiegelei auf der Mauer braten. (Liegt sie etwa auf dem Boden?) „Weltklasse Kletterer” hätten versucht über die 20 Meter hohe Mauer zu klettern, es sei ihnen unmöglich gewesen. (Die Mauer ist projektiert zwischen 8 und 14 Metern Höhe, die 8 würden vier Milliarden kosten, die 14 acht Milliarden und damit weit über den maximalen Forderungen der Finanzierung liegen, von 20 Metern war nie die Rede). Trump gesteht ein, man könne die Mauer umlaufen statt durchzubohren oder drüber zu klettern, aber das sei viel zu weit. (Zu weit halt – you know.) Tunnelbohren sei unmöglich, denn die Mauer sei einfach zu tief. So ging es über 45 Minuten dahin und stets musste Taylor raten, wovon Trump eigentlich redet, schließlich hatte die Pressekonferenz den geplanten Mauerbau überhaupt nicht zum Thema … Die US-Kolleg*innen schienen dies gewohnt zu sein und bastelten Darstellungen, die viel kohärenter waren als das, was Trump eigentlich gesagt hatte. Die Frage ist, inwieweit Journalist*innen hier in eine Komplizenschaft geraten und es nicht treffender wäre zu berichten: „Da ist ein gemeingefährlicher, verrückter Alter im Weißen Haus und ich habe keine Ahnung, was er redet.“
Wer hat die Zeit?
Die App Blinkist wirbt damit, in Texten von nur 15 Minuten Lesezeit, oder noch praktischer aufgenommen als Hörbuch, die Kernaussagen von Sachbüchern zusammenzufassen. So könne man dann „mitreden“, ohne die jeweiligen Bücher tatsächlich lesen zu müssen (lästig!), und könne so auch den Arbeitsweg besonders „effizient“ nutzen. Die Streaming-Plattform Netflix testet derweil eine Speedwatching-Funktion, die den User*innen erlauben soll, Serien und Filme einfach schneller abzuspielen. Diese eindrucksvolle Technologie dürfte älteren Fernsehzuschauer*innen noch aus der Benny Hill Show bekannt sein. Endlich keine faden Längen mehr beim Filmschauen und eine ganze Serienstaffel lässt sich leicht an einem Abend bingen. MALMOE überlegt diese vielversprechenden Geschäftsmodelle zu verbinden und als Service für unsere Leser*innen künftige Ausgaben in voller Länge einzulesen. Das hilft einerseits lange, einsame Abende zu füllen, wer es aber eilig hat, dreht einfach die Geschwindigkeit rauf.