MALMOE

Halitstraße Jetzt!

Am 6. April 2006 wurde Halit Yozgat in seinem Internetcafé in der Holländischen Straße in Kassel ermordet. Viele Jahre wurde anschließend gegen die Famlie Yozgat rassistisch ermittelt und auch in der Medienberichterstattung belastet, bis sich der NSU 2011 selbst enttarnte und damit sowohl die rassistischen Untersuchungspraxen der Polizei als auch die rassistische Medienberichterstattung auf brutale Weise vorgeführt hat. Daraufhin gründete sich die Initiative 6. April, um das öffentliche Gedenken an Halit Yozgat zu gewährleisten.

Durch die Anwesenheit des Verfassungsschützers Andreas Temme zur Tatzeit ist die staatliche Involvierung an diesem Tatort besonders deutlich. Als Initiative versuchen wir daher immer wieder zu fragen, wieso Temme sich nicht als Zeuge gemeldet hat, was staatliche Sicherheitsbehörden wussten und warum er trotz mehrerer Falschaussagen weiterhin unbehelligt bleibt. Wie und wieso Halit ausgewählt wurde, bleibt durch den Schutz der Helfer*innen und Helfershelfer*innen des NSU unbeantwortet.

Die Forderungen der Familie bleiben jedoch weiterhin ungehört. Halits Vater, Ismail Yozgat, sagte 2016: „Ich habe viel nachgedacht, wie ich die kommende Generation vor braunem Gedankengut und den Folgen daraus schützen kann. Es müsste etwas sein, was diese grausamen Morde niemals vergessen lässt und immer gegenwärtig bleibt, um immer ein wachsames Auge zu haben. […] Zum einen ist Halit in der Holländischen Straße geboren, hat dort gelebt und wurde dort brutal ermordet. […] Mit einer Umbenennung in Halitstraße bin ich fest davon überzeugt, dass viele sich fragen werden, wie die Namensgebung stattgefunden hat. Somit werden diese grausamen Morde niemals in Vergessenheit geraten und das wachsame Auge weiterhin gestärkt.“ Als Initiative unterstützen wir die Forderung der Familie Yozgat nach der Umbenennung.

Die letzten Jahre haben uns gelehrt, dass Gedenken an rassistische Morde gesellschaftlich eingeklagt werden müssen. Seit dem Ende des NSU-Prozesses im Juli 2018 und des hessischen parlamentarischen Untersuchungsausschusses im November 2018 gibt es eine abschließende und relativierende Rhetorik von Seiten der Stadt Kassel, die sich zunehmend aus dem öffentlichen Gedenken rauszieht. Gleichzeitig schreibt die Stadt einen Preis aus, mit dem wissenschaftliche Arbeiten ausgezeichnet werden sollen, die sich mit Extremismus [sic!], Rassismus oder Antisemitismus auseinandersetzen, und überspielt so die Notwendigkeit der Arbeit an den konkreten, erschreckenden Fällen.

Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken, versuchen wir zum einen über Kulturräume zu mobilisieren. Bei der Ausstellung documenta 14 (2017) wurde die Arbeit „77sqm_9:26min“ von Forensic Architecture gezeigt. Mit regem Interesse finden regelmäßig Theaterstücke und Podiumsdiskussionen statt, die immer wieder Öffentlichkeit und Interesse generieren.

Zum anderen haben wir in diesem Jahr als Initiative das breite Bündnis 6. April gegründet, um die Demonstration „Solidarität statt Schlussstrich“ am Gedenktag zu organisieren. Hier war es uns wichtig, antirassistische und antifaschistische Kräfte zu bündeln, um gemeinsam auf eine rechte Szene hinzuweisen, die sich zur Zeit sehr sicher gibt, da sie gestärkt aus den Gerichtsprozess hervorgegangen ist.

Nicht einmal zwei Monate nach dem 6. April 2019 wurde der Regierungspräsident Walter Lübcke in Kassel von einem bekannten Nazi erschossen. Wie Halit wurde auch Walter Lübcke mit Kopfschüssen hingerichtet. Seitdem gibt es ein erhöhtes Interesse an den Neonazi-Netzwerken in Nordhessen. Vor allem nachdem öffentlich wurde, dass Temme beruflich mit dem Mörder befasst gewesen ist. Wieso der Verfassungsschutz die Überwachung trotz vieler Hinweise seiner anhaltenden Gewaltbereitschaft 2011 einstellte, zeigt, wie wenig Konsequenzen aus dem NSU gezogen wurden.

Die Notwendigkeit einer „lückenlosen Aufklärung“, die Benennung aller Verstrickungen und die juristische Aufarbeitung des Netzwerks des NSU-Komplex, bleibt daher umso aktueller. Lernen aus dem NSU-Komplex heißt für uns, das Wissen der Betroffenen zu zentrieren, ihre Perspektiven zum Ausgangspunkt unserer Arbeit zu nehmen, um so migrantisch-situiertes Wissen und antifaschistisches Recherche-Wissen zu verbinden. Nur wenn wir voneinander lernen und unsere Analysen mit unseren Kämpfen verbinden, können wir zukünftig verhindern, dass rassistische Morde so lange nicht als solche anerkannt, angeklagt, verurteilt und aufgeklärt werden.


Bereits 2006 wiesen die Angehörigen der Opfer mit einer Demonstration auf den rechten/rassistischen Hintergrund der Mordserie hin und forderten: „Das Morden muss aufhören.“ Auch für 2020 gilt es dies weiterhin einzufordern und gemeinsam in solidarischen Bündnissen die Realität der Gesellschaft der Vielen zu verteidigen.