Chronik der Revolten im Land des Neoliberalismus
In ihrer Anonymität und ihrem unpersönlichen Charakter enthalten die Parolen und Graffitis der Demonstrierenden in den Straßen häufig eine gewisse Wahrheit. „Das sind nicht 30 Pesos, das sind 30 Jahre“, „bis dahin, wo es lebenswert ist“, „wir kommen nicht zur Normalität zurück, denn die Normalität war das Problem“, – das sind einige Aussagen, die man in den letzten Wochen in Chile vernehmen konnte, nach Ausbruch der wichtigsten und größten sozialen Revolte, die Chile seit der Zeit der Diktatur unter General Pinochet (1973-1990) gesehen hat.
Wenn klar ist, dass die Erhöhung des Metroticketpreises um 30 Pesos in der Hauptstadt Santiago nur der materielle Tropfen war, der das Fass zum Überlaufen brachte, so ist es dennoch weniger einfach, die Ursachen einsichtig zu machen, die zu diesem Ausbruch führten. Die Preiserhöhung um etwa 0,035 Euro führte zu einem Preis pro Einzelfahrschein von ungefähr einem Euro, ein Betrag also, der unbedeutend erscheinen könnte, bloß, dass er zu einem untragbaren Preis für eine Bevölkerung wurde, in der die Hälfte der Vertragsangestellten monatlich weniger als 480 Euro verdient und deren Ausgaben für die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel pro Haushalt in einer Großstadt bis zu 200 Euro betragen können. Der Mindestlohn liegt aktuell bei etwa 360 Euro.
Krieg gegen die Bevölkerung
Die Maßnahme, die Anfang Oktober von der Rechtsregierung unter Präsident Sebastián Piñera umgesetzt wurde, hat in der Woche vom 14. zum 18. Oktober zu einer Reihe groß angelegter Aufrufe zum „Schwarzfahren“ in öffentlichen Verkehrsmitteln geführt. Maßgeblich vorangetrieben haben diese Mobilisierungen die Oberschülerinnen und Oberschüler. Diese SchülerInnen, an der Seite feministischer Organisationen, spielten eine entscheidende Rolle in den Protesten der jüngeren Geschichte Chiles, vor allem seit der sogenannten „Revolution der Pinguine“ im Jahr 2006. Nachdem die Demonstrationen in ihrer Intensität zugenommen hatten, kam es am Freitag, den 18. Oktober, zu einem besonders gewaltsamen Tag, an dem mehrere U-Bahnstationen in Flammen gesetzt, Supermärkten und Warenhäusern geplündert und Barrikaden in den Straßen errichtet wurden. Die – ebenso verzweifelte wie unverhältnismäßige – Antwort der Regierung war die Ausrufung des Ausnahmezustandes, eine Form konstitutioneller Ausnahmeregelung, die seit der Pinochet-Diktatur nicht mehr zur Eindämmung sozialer Unruhen eingesetzt wurde. Außerdem wurde eine einwöchige Ausgangssperre verhängt. Diese Maßnahmen waren in einen, seit den 1970er Jahren in der Region nur allzu gut bekannten, offiziellen Diskurs eingebettet, nämlich jenen über den „inneren Feind“: „Wir sind im Krieg“, verkündete der Präsident und erklärte damit jenem Volk den Krieg, das er eigentlich zu regieren hätte.
Die Erinnerungen an die düstersten Augenblicke der jüngeren Geschichte des Landes ließen nicht lange auf sich warten: Die Armee rückte mit Panzern und Helikoptern zuerst in die Straßen Santiago de Chiles vor, um die „Aufständischen“ – darunter auch Kinder und ältere Menschen – niederzuschlagen, die mit nichts als Kochtöpfen bewaffnet waren. Die „cacerolazos“ sind eine sehr beliebte Demonstrationsform in Chile, die einfach darin besteht, viel Lärm durch das Schlagen auf Töpfe zu erzeugen. Das Schlimmste aber ist, dass bis zum heutigen Tag etwa 20 Tote, fünf davon wurden von SoldatInnen getötet, mehr als 200 Augenverletzungen durch Gummi- und Bleigeschoße der Polizei und über 800 Menschenrechtsverletzungen gemeldet wurden, darunter Folter, Vergewaltigung, Körperverletzung, Entkleidung, illegale Festnahme, Bedrohung. Die diesbezügliche Dunkelziffer wird von vielen wesentlich höher geschätzt, da aufgrund mangelnden Vertrauens der Bevölkerung in die Polizei und Justiz unzählige Fälle nicht zur Anzeige gebracht werden. Die chilenische Ärztekammer hat inzwischen erklärt, das Land habe einen „Weltrekord“ an Augenverletzungen erreicht.
Kontinuitäten
Unglücklicherweise geht es bei den Protesten nicht nur um die Frage der „täuschenden Ähnlichkeit“ mit der Zeit der Pinochet-Diktatur, die das Land für 17 Jahre dem Staatsterrorismus unterworfen hatte. Es geht auch um die andauernde Präsenz derjenigen Personen, die schon im wirtschaftlich-politischen Projekt Pinochets und ihren staatlichen Einrichtungen zu hohen Ehren kamen und heute an der Seite von Präsident Piñera als Kabinettsmitglieder in den Ministerien und im Parlament sitzen. Die politischen Kernprojekte sind Familienangelegenheiten: der Bruder des Präsidenten und fünftreichsten Mannes des Landes, José Piñera, einstiger Minister für Arbeit unter Pinochet, ist derjenige, der die Verwaltung der Pensionsfonds privatisiert hatte. Diese Privatisierung ist eine der wichtigsten Ursachen der generellen Unzufriedenheit, gegen die sich auch jene zivilgesellschaftliche Organisation mit dem größten Rückhalt im chilenischen Volk formiert hatte, die „No + AFP“ (AFP steht für Administradora de Fondos de Pensiones).
Die vergangenen Tage haben daher bestätigt, dass die Erzählung einer „erneuerten“ politischen Rechten, die sich von der Diktatur distanziert und die dort verübten Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt, niemals etwas anderes war als eine bloße Chimäre, und zwar vor allem eine, mit der politisches Kapital lukriert werden kann. Bezeichnend dafür ist, dass Präsident Piñera, der sich rühmt, bei der Volksabstimmung zur Beendigung der Diktatur mit „Nein“ gestimmt zu haben, auch bei den Demonstrationen für die Befreiung Pinochets 1998 in den vordersten Reihen marschierte.
Aber das Problem kann nicht einzig auf die Diktatur reduziert werden. Nach der überparteilichen Einigung für einen Übergang zur Demokratie hatte Chile 20 Jahre lang sozialdemokratische Regierungen, von denen, abgesehen von Reformen in kleinen Sektoren, keine willens war, die institutionellen Apparate zu verändern, die bis heute das in der Diktatur eingeführte neoliberale System erhalten. Das beginnt bei der Verfassung von 1980, dem eigentlichen „Zentrum“, in dem viele Probleme, aufgrund derer die Menschen auf die Straße gehen, zusammenlaufen.
Dieses Erbe Pinochets hat dabei aufgehört, exklusiver Besitz einstmaliger Sympathisanten zu sein (die Rechte, kirchliche Parteien, Großbürgertum). Vielmehr sickerte der autoritäre Nachlass in Form von Privilegien und Einfluss auch in diejenige Klasse, die während der Diktatur von den Mächtigen bekämpft und heute durch dieselben Personen gestützt wird. So beispielsweise die „sozialistischen“ Regierungen unter Ricardo Lagos oder etwa Michelle Bachelet.
Das chilenische Labor
In diesem Sinn sind die Ursachen der Krise nicht alleine in der mit Waffengewalt durchgesetzten Transformation während der Diktatur zu suchen: Die Zerschlagung politischer und gewerkschaftlicher Verbände, die Privatisierung von Staatsunternehmen, der Abbau jeglicher Form sozialer Sicherheit und eine neue Verfassung mit konservativer und autoritärer Prägung spielen genauso eine Rolle. Ebenso müssen ihre Ursachen in den demokratischen Regierungen gesucht werden, die das besagte Erbe in den Jahren von 1990 bis 2010 verwalteten und dabei nicht nur die Verfassung von 1980 beibehielten, sondern die Privatisierung staatlicher Dienstleistungen sogar fortsetzte und vertiefte.
Man könnte meinen, dass das „neoliberale Labor“, das Chile während der Jahre der Diktatur war, und von Milton Friedman als „Chilenisches Wirtschaftswunder“ bezeichnet wurde, seine Absicht so erfolgreich in die Tat umgesetzt hat, dass es jeglichen politischen Handlungsspielraum, die Spielregeln politischen Handelns, alternativlos mitdiktiert hat. Dass es selbst die Bedingungen und Grenzen politischen Wandels, des politischen Handelns als solchem, mitgeschaffen hat. Vielleicht sind wir heute besser imstande zu sehen, dass das wohl der wichtigste und gewichtigste Erfolg des chilenischen, neoliberalen Modells war: selbstbestimmte Politik als solche fast gänzlich abzuschaffen. Und es ist vielleicht gerade eine solche Politik, die wir jetzt in den Straßen auftauchen sehen, in einer gewaltsamen und unkoordinierten Weise, wenn man so will, jedoch auch so massenhaft und kreativ, wie man es bisher noch nicht gesehen hat.
Kein Schluss
Entgegen einem bestimmten liberalen Diskurs, der in den Revolten bloß eine Bewegung der „Jungen“ sehen möchte, die sich hauptsächlich durch ihre Beliebigkeit und ihre Leidenschaften leiten lassen und folglich ohne wirkliche politische Gründe, also unvernünftig, handeln; entgegen diesem Diskus, der die Komplexität und das Potenzial dieser Bewegung auf einen bloßen Generationenkonflikt reduzieren möchte, als eine Art Neuauflage der schlechtesten Lektionen vom „Mai 68“ mitten im 21. Jahrhundert, wird es notwendig sein, den ganz grundsätzlich politischen Charakter sowie die Tragweite der Bewegung, das heißt, ihren tatsächlichen massenhaften Charakter anzuerkennen. Dass die Bewegung eine „linke“, eine „revolutionäre“ wäre, ist dabei mitnichten gesagt, und sie ohne weitere Präzision als eine solche zu benennen, hilft niemandem außer den überzeugten AktivistInnen, die sich ihres guten Gewissens versichern können. Das heißt aber wiederum nicht – das wäre bloß die politische Kehrseite im Spiegelbild desselben Urteils – dass es sich um eine Bewegung der „BürgerInnen“ handle, die „weder links noch rechts“ sei, wie es jene gerne vorbringen, die nur auf die Gelegenheit einer „populistischen“ oder „technokratischen“ Vereinnahmung der im Spiel befindlichen Kräfte warten.
Nach einem Monat anhaltender Demonstrationen von historischem Ausmaß hat am Freitag, dem 15. November, ein Zusammenschluss der Parteien von Links bis Rechts, darunter auch die pinochistische Partei, das „Abkommen für den Frieden und eine neue Verfassung“ unterzeichnet – ohne jegliche Beteiligung der sozialen Bewegungen und einiger linker Parteien. Der Enthusiasmus einiger führt schnell dazu, dieses Abkommen wie einen Sieg zu feiern, der allerdings der Regierung unter Piñera wie ein Rettungsring zufiel, die zuletzt kaum mehr neun Prozent Zustimmung in der Bevölkerung zu verzeichnen hatte. So wie man die Lehre ziehen kann, dass sich die Interessen der Bevölkerung nur in der Stärke der Massendemonstration manifestieren, so lässt sich eine andere Erfahrung nicht vernachlässigen, deren Lektion ebenso gelernt sein muss: Dass ein Abkommen ohne die Beteiligung des Volkes immer zu einem Abkommen gegen das Volk werden kann. Selbstverständlich bleibt der Prozess offen und endet nicht mit diesem Abkommen. Wenn tatsächlich von Ereignissen historischen Ausmaßes die Rede sein kann, dann können diese nicht damit schließen, so es überhaupt einen angemessenen Schluss gibt.