Der Kaschmir-Konflikt ist durch den Vormarsch des Hindunationalismus in Indien mitbedingt, der die muslimische Provinz gezielt unterdrückt
Am 5. August dieses Jahres gab der indische Innenminister Amit Shah die Abschaffung jeglicher Sonder- und Autonomierechte des Bundesstaates Jammu und Kashmir bekannt. Durch ein am nächsten Tag vom Parlament verabschiedetes Gesetz wurde zudem die Verfassung des Bundesstaates aufgehoben und die Region in zwei Unionsterritorien geteilt, deren Verwaltung zukünftig direkt der Zentralregierung in Delhi obliegt. Die Regierungspartei BJP („Bharatia Janta Party“ oder zu Deutsch „Indische Volkspartei“) des hindu-nationalistischen Premierministers Narendra Modi feierte dies als den erfolgreichen Abschluss der vollständigen „Integration“ des einzigen Bundesstaates mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung. In ihren Augen wurde dadurch die nationale Einheit her- und sichergestellt.
Ausgangssperre
Bezeichnenderweise waren die Einzigen, die davon zunächst wenig bis nichts mitbekamen, die Bewohner_innen Kashmirs selbst. Bereits einen Tag zuvor war eine strikte Ausgangssperre verhängt worden. Internet und Telefonnetz waren ebenfalls im ganzen Bundesstaat abgeschaltet. Die Schriftstellerin Arundathi Roy bezeichnete die Region daher als ein gigantisches Gefängnis mit sieben Millionen Gefangenen, die ihre Häuser nicht verlassen können und keinen Kontakt zur Außenwelt haben. Zwar wurden die Restriktionen in den folgenden Wochen etwas gelockert, doch von einem „Normalzustand“, wie die Zentralregierung die Situation bezeichnet, kann bei weitem keine Rede sein. Das Telefonnetz blieb in einigen Teilen des Landes für über einen Monat gesperrt. Internet und Mobilfunknetze sind auch jetzt, mehr als drei Monate nach der Abschaffung der Sonderrechte, nach wie vor in großen Teilen des Landes abgeschaltet. Das gilt insbesondere für das Kaschmir-Tal, das seit jeher das Zentrum der politischen Proteste bildet. Die drakonischen Maßnahmen stellen nicht nur eine massive Einschränkung basaler Grundrechte dar, sondern haben auch handfeste tragische Folgen. Einige Menschen starben, weil keine Rettung gerufen werden oder dringend benötigte Medikamente nicht bestellt werden konnten. Zudem ist die Wirtschaft der ohnehin fragilen Region stark angeschlagen.
Dabei war der Großteil der Bevölkerung bereits im Vorhinein auf Ausgangssperren und Einschränkungen eingestellt. Die ohnehin schon massive Polizei- und Militärpräsenz stieg noch weiter an; zeitgleich wurden hunderte Personen verhaftet oder unter Hausarrest gestellt, darunter drei ehemalige Ministerpräsident_innen des Bundesstaates. Das Ausmaß der angekündigten Veränderungen und deren Tragweite war dennoch überraschend. Durch die Abschaffung des Artikels 370 der indischen Verfassung wurde Kashmir nicht nur jeglicher Sonderrechte, sondern auch seiner selbstständigen politischen Vertretung beraubt.
Koloniale Praktiken
Als besonders folgenschwer könnte sich die Aufhebung eines Gesetzes erweisen, das den Bewohner_innen Kaschmirs besondere Aufsichtsrechte über das Land verlieh und die Möglichkeiten des Grundbesitzes für Nicht-Kaschmiris stark einschränkte. Die Regierung in Delhi sieht die Abschaffung als notwendigen Schritt der nationalen Integration und als Garant für die Sicherstellung der „wirtschaftlichen Entwicklung“ der Region. Viele Kaschmiris sehen darin jedoch zum einen ihre kulturelle Identität, zum anderen vor allem ihre politischen Rechte gefährdet. Die Ankündigungen einiger der größten indischen Konzerne, wie Relience Industries, machen deutlich, dass es dabei nicht zuletzt um einen erleichterten Zugang zu den kostbaren Ressourcen der ökologisch sensiblen Gebirgsregion geht. Kritiker_innen sprechen daher nicht zu Unrecht von der Übertragung vormals kolonialer Praktiken auf die Innenpolitik. Ein Blick zurück in die Geschichte macht dies deutlich.
Zum Zeitpunkt der indischen Unabhängigkeit befanden sich weniger als 60 Prozent des gesamten heutigen Pakistan, Bangladesch und Indien umfassenden Gebietes unter formal britischer Kontrolle. Der Rest entfiel großteils auf über 500 sogenannte Princely States, die insbesondere in Fragen der Verteidigung und Außenpolitik der Kontrolle des British Empires unterlagen, im Inneren aber von unabhängigen Herrschern geführt wurden. Die meisten dieser Königreiche schlossen sich nach der Unabhängigkeit Indiens und Pakistans im Jahr 1947 einem der beiden neu entstandenen Nationalstaaten an. Der hinduistische Maharaja von Kaschmir entschied sich jedoch gegen den Anschluss und pochte auf seine Unabhängigkeit. Erst als die pakistanische Armee den Einmarsch vorbereitete, wandte er sich mit der Bitte um militärische Unterstützung an die indische Regierung, die ihm diese nach der Zusicherung seiner Abdankung auch gewährte. Der so unter erheblichen Druck erfolgte Anschluss des hinduistischen Königreiches mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung sollte im Nachhinein durch eine Volksbefragung bestätigt werden. Das hatte Indien auch der UNO zugesichert und vertraglich bestätigt. Auf ihre Durchführung wartet die Bevölkerung Kaschmirs jedoch bis heute.
Nach der Teilung der Region entlang der sogenannten Line of Control blieb die Situation daher auf beiden Seiten der Grenze angespannt. In zwei weiteren Kriegen (1965 und 1999) sowie zahlreichen kleineren militärischen Auseinandersetzungen zwischen Indien und Pakistan ging es ebenfalls um Kaschmir. Die starke Präsenz der indischen Armee in der Region diente jedoch keineswegs nur der Bewachung der Grenze zu Pakistan, sondern auch der Kontrolle der eigenen Bevölkerung. Dies führte Ende der 80er-Jahre zu einem Aufbrechen der vormals starken gemeinsamen kaschmirischen Identität von Hindus und Muslimen. In klassisch kolonialer „divide and rule“-Politk versuchte die Zentralregierung die religiösen Spannungen gezielt auszunützen. Die Folge war jedoch eine Radikalisierung großer Teile der muslimischen Bevölkerung, die Anfang der 90er-Jahre in einen anhaltenden militärischen Aufstand mündete, der Unterstützung von jihadistischen Gruppen in Pakistan und anderen muslimischen Ländern erhielt. Die Entwicklungen in Kaschmir stehen so im unmittelbaren Zusammenhang mit der religiösen Radikalisierung auf beiden Seiten der Grenze. Ein zunehmend radikaler Islam auf der einen Seite und ein aggressiver Hindunationalismus auf der anderen. Am stärksten traf dies zunächst den in Kaschmir verbliebenen Rest der autochthonen hinduistischen Minderheit der sogenannten Kaschmiri Pandits. Etwa 400 von ihnen wurden Anfang der 90er-Jahre von Mitgliedern jihadistischer Gruppen gezielt ermordet. Oftmals hatten Täter und Opfer zuvor seit Generationen im gleichen Dorf gelebt. Weitere zehntausende Pandit-Familien flüchteten aus der Region. Kaum eine Familie kehrte bisher zurück. Im verstärkten Kampf gegen die Rebellen und Terroristen richtete die indische Armee auch mehrere Folterkammern wie das berüchtigte „Papa II“ ein, in denen tausende junger Kashmiris verschwanden, die später oftmals tot und mit Folterspuren in nahegelegenen Flüssen gefunden wurden. Außerdem kam es laut Berichten von Menschenrechtsorganisationen zu hunderten von außergerichtlichen Hinrichtungen in „fake encounters“.
Als die Lage ab den 2000er-Jahren wieder etwas ruhiger wurde, hing das auch damit zusammen, dass die indische Regierung verstärkt auf die Unterstützung gemäßigterer, pro-indischer Parteien in Kashmir setzte. Dies führte zu einer gewissen Stabilisierung und Entradikalisierung. Doch genau dieser Weg wird durch die jüngsten Ereignisse stark in Frage gestellt. Von einer erneuten Radikalisierung könnte letztlich die hindunationalistische BJP von Premierminister Modi am meisten profitieren, weil sie den Konflikt gezielt innenpolitisch ausschlachten kann.
Rechte Unterstützung
Die internationalen Reaktionen auf die Einschränkungen der Grundrechte und die einseitigen rechtlichen Veränderungen in Kaschmir fielen äußerst verhalten aus. Obwohl der pakistanische Premierminister Imran Khan mehrmals von einem möglichen Krieg zwischen den beiden Atommächten sprach und sichtlich darum bemüht war, die Situation sowohl außen- als auch innenpolitisch auszunutzen, hielt sich die explizite Kritik an Indien aus anderen Staaten in Grenzen. Auch China, einer der engsten Verbündeten Pakistans, hat das Vorgehen Indiens zwar verurteilt, sich aber ansonsten mit Kritik oder gar Sanktionen zurückgehalten. Schließlich verfolgt man in Xinjiang ja durchaus ähnliche Ziele wie Indien in Kaschmir. Während der US-Kongress inzwischen immerhin bereits zwei Anhörungen zur aktuellen Lage in Kaschmir abhielt, waren Mitglieder des EU-Parlaments stattdessen Ende Oktober für eine von Indien eingefädelte PR-Aktion auf Besuch in Kaschmir. Die 23 Parlamentarier_innen, die fast alle extrem-rechten und anti-muslimischen Parteien wie der AfD, Marine Le Pens Rassemblement National, der polnischen PiS, oder der italienischen Lega angehörten, waren nicht nur in Kashmir, sondern trafen auch Premierminister Modi – obwohl sie gar nicht in offizieller Funktion, sondern lediglich privat unterwegs waren. Die Situation war allerdings auch während des Besuches der Delegation in der Hauptstadt Srinagar derartig angespannt, dass sogar die Hardcore-Nationalist_innen nicht die „Normalität“ erkennen konnten, von der Narendra Modi seit Wochen mantraartig gesprochen hatte.
Trotz der missglückten PR-Aktion bleibt allerdings klar, dass der hindu-nationalistische Umbau Indiens weiter zügig voranschreitet. Das zeigt sich auch an zahlreichen weiteren Entwicklungen. So müssen im Nordosten Indiens tausende von Muslim_innen, die grundlos der illegalen Einreise bezichtigt werden, ihre Staatsbürgerschaft vor Tribunalen beweisen. Und im November hat der Supreme Court in einem der wichtigsten und am längsten laufenden Gerichtsverfahren der indischen Geschichte ein endgültiges Urteil gefällt und beschlossen, dass eine über 450 Jahre alte Moschee, die 1992 von Hindu-Mobs teilweise zerstört wurde, endgültig abgerissen werden müsse, um an derselben Stelle Platz für einen neuen Ram-Tempel zu machen. Von der einstigen Vision eines multikulturellen säkularen Staates ist wenig übriggeblieben. Dass all dies wenig Anreize für die muslimischen Kaschmiris bietet, um sich zur indischen Nation zu bekennen, liegt auf der Hand. Die Rufe nach „Azadi“ (Freiheit und Unabhängigkeit) werden immer lauter werden.