Eine große Mehrheit der Chilenen fordert endlich soziale Gerechtigkeit und wünscht sich eine neue Verfassung. Doch die Politik zögert und spielt auf Zeit
Die Erfolgsgeschichte vom wirtschaftlichen Musterschüler Lateinamerikas war einfach zu schön, um wahr zu sein. Den Traum vom Wohlstand genießt im reichsten Land Lateinamerikas nur eine kleine Elite. Der Armutsforscher Thomas Piketty geht davon aus, dass ein Prozent der Chilen*innen 35 Prozent des Reichtums des Landes besitzen. Die Folgen: 11 von 18 Chilen*innen sind hoch verschuldet. Sie haben kein Geld, um die Schulausbildung für ihre Kinder zu bezahlen, um eine Operation und lebensnotwendige Medikamente zu finanzieren oder um den sozialen Absturz hinauszuzögern. Das heißt, sie sind gezwungen Schulden zu machen. Vom Leben auf Pump profitiert wiederum die kleine Elite, der viele der Banken, Universitäten, Spitäler und Apotheken gehören.
Die große Mehrheit der Chilen*innen hat genug von dieser enormen sozialen Ungleichheit. Sie wollen den wirtschaftlichen Weg, der einst in der Diktatur beschlossen wurde, nicht mehr mitgehen. Sie sagen Nein zu einem Staat, der sich bewusst aus der sozialen Verantwortung für seine Bürger herausnimmt. Daher demonstrieren sie seit dem 18. Oktober täglich in Massen auf den Straßen.
Brandbeschleuniger Ignoranz
Auslöser des Aufstandes war eine Preiserhöhung der U-Bahn-Tickets in der Hauptstadt Santiago und der ernst gemeinte Vorschlag des Transportministers: Die Menschen mögen doch bitte Züge in den frühen Morgenstunden nehmen, da seien die Tickets schließlich günstiger. Sein Sager verbreitete sich über die sozialen Medien und wirkte wie ein Brandbeschleuniger für die lang aufgestaute Wut. Diese erfasste schnell auch die anderen Städte Chiles, obwohl es dort nicht einmal eine U-Bahn gibt.
Die heftigen Unruhen waren nur eine Frage der Zeit. Was viele schockte, war der damit einhergehende Vandalismus. Supermärkte und Apotheken wurden geplündert, Banken niedergebrannt, kleine Geschäfte zerstört. Viele verloren dadurch ihren Job. Und das tägliche Leben wurde dadurch noch komplizierter. Die Leute fragten sich: Wo kann man noch einkaufen, wo noch Geld abheben, wo läuft man nicht Gefahr, in einen Mob zu geraten?
Der Zorn ist nicht nur eine Reaktion auf die Realitätsverweigerung der Politik. Vor allem die Jugend fühlt sich um ihre Zukunft betrogen. Die Perspektivlosigkeit macht sie traurig, wütend und furchtlos. Die meisten Demonstrant*innen haben seit langem die Nase voll von einer Verfassung, die festschreibt, alles den freien Markt entscheiden zu lassen. Denn Wasserrechte, Bergbaukonzessionen, Energiewirtschaft, Pensions-, Gesundheits- oder Bildungssystem sind in privater Hand und Spielball für Mega-Geschäfte.
Spätfolgen der Diktatur
Die Ausbeutung der natürlichen Bodenschätze für den weltweiten Export sollten das Land reich machen und allen zugutekommen. Doch internationale Kupferminen zahlen in Chile kaum Steuern. Wie kann das sein? Ganz einfach, sie machen – laut eigenen Angaben – kaum abgabenpflichtige Gewinne, sehr wohl aber ihre Tochterfirma mit Sitz im Steuerparadies. Daran haben Chiles demokratische Regierungen nie etwas geändert und geschätzte 300 Milliarden Euro an Verlust hingenommen, die dem Staat dadurch in den vergangenen 30 Jahren entgangen sind. Das ist Geld, das zum Beispiel dem staatlichen Bildungssystem fehlt.
Daher schicken viele Chilen*innen ihre Kinder auf private Schulen und Universitäten. Für die Bildung geben sie bis zu 25 Prozent ihres Einkommens aus. Zum Vergleich: In Österreich ist es nur ein Prozent. Gegen diese Ungerechtigkeit und für ein besseres staatliches Bildungssystem demonstriert vor allem die Jugend bereits seit 2011 – ohne jeden Erfolg.
Diktator Pinochet machte persönlich den Weg für das Mega-Geschäft mit dem Wasser frei. Wasserrechte wurden kostenfrei sowie unbefristet an jene übergeben, die eine Konzession beantragten. Die Folge waren ein sozialer und ökologischer Kollateralschaden. So leiden im Norden des Landes viele Orte an Trinkwassermangel, viele Felder sind vertrocknet und das Vieh verdurstet, weil die Betreiberunternehmen der großen Kupferminen mehr für die begrenzten Wasservorräte zahlen können als die Bauern.
Auch das Pensionssystem ist zum Teil ein privates Mega-Geschäft und macht für viele ein Altern in Würde unmöglich. Ist das im Laufe des Lebens eingezahlte Geld ausgegeben, stellen die Versicherungskonzerne die Zahlungen ein. Immer mehr Pensionist*innen stehen deshalb vor dem nichts.
Chile ist aufgewacht
Gegen all das gehen 99 Prozent der Demonstrant*innen täglich friedlich, kreativ und selbstbewusst auf die Straße. Sie stammen aus fast allen Schichten der Gesellschaft. Am 25. Oktober versammelten sich im ganzen Land sogar zwei Millionen Menschen zum Protest. Allein in der Metropole Santiago waren 1,2 Millionen auf der Straße. Der Staat regiert drauf bisher mit Unverständnis.
Präsident Piñera wähnte sich im Krieg gegen einen mächtigen Feind und schickte die Armee und Spezialeinheiten der Polizei auf die Straße. Das erinnerte ältere Chilen*innen an die dunklen Tage der Diktatur. Auch, weil es wieder massive Menschenrechtsverletzungen gibt. Amnesty International hat den Gebrauch von Schusswaffen gegen friedliche Protestierende, sexualisierte Gewalt und Misshandlungen in Polizeigewahrsam dokumentiert.
Schockierende Bilder
So zeigt eine Video-Recherche der New York Times, wie die chilenischen Sicherheitskräfte absichtlich hunderte Demonstrant*innen schwer verletzen. Die renommierte US-Zeitung berichtete in einem anderen Video darüber, dass Demonstrant*innen durch gezielte Schüsse der Polizei ins Gesicht erblindeten. 220 Personen wurden bisher so für immer sichtbar verstümmelt. Aber auch ein mit oranger Weste deutlich gekennzeichneter UN-Beobachter, der für den Menschenrechtsbericht recherchierte, wurde von sechs Schüssen getroffen. Das Signal an die Demonstrant*innen: Es kann jede*n von euch treffen.
Das Vertrauen der Chilen*innen in die Ordnungsmacht ist seit der Diktatur gering und hat in den vergangenen Wochen noch mehr gelitten. Doch das öffentliche Bild der Ordnungskräfte hatte schon davor tiefe Risse. So brachte der „Pacogate“-Skandal einen Teil der Polizeiführung wegen milliardenschwerer Korruption hinter Gitter. Und auch das Militär hatte mit „Milicogate“ einen Finanzskandal, durch den den Staat jahrelang um Milliarden Peso erleichtert wurde.
Langer Weg zur neuen Verfassung
Die Unruhen forderten bisher 22 Tote und über 2.200 Verletzte. Trotzdem sind die Demonstranten von ihrer Forderung nach einer neuen Verfassung nicht abgerückt. In einer Umfrage hatten sich zuletzt 78 Prozent der Chilenen dafür ausgesprochen. Wie regiert die Regierung darauf? Nach drei Wochen des Lavierens forderte Präsident Piñera einen „acuerdo por la paz“, also einen Friedensvertrag: ein Vorschlag, der für viele überraschend kam, war Chile doch nie im Krieg gewesen.
Die Regierung und ein Teil der Opposition haben mittlerweile einen Plan vorgelegt, der den Weg für eine neue Verfassung freimachen soll. Dieser sorgt derzeit für heftige Diskussionen. Denn die Chilen*innen sollen erst im April, also in einem halben Jahr, darüber abstimmen, ob sie überhaupt eine neue Verfassung haben möchten. Wer diese schreiben soll, ist noch völlig offen. Fest steht: Wenn sie irgendwann ausgearbeitet ist, sollen die Chilen*innen in einem weiteren Referendum darüber abstimmen dürfen.
Doch die Mehrheit der Chilen*innen hat keine Lust, weiter tatenlos zu warten. Überall im Land wird über eine neue Verfassung diskutiert, die die Handschrift der gesamten Bevölkerung trägt. Ideen und Lösungen dafür werden jetzt in Bürgerversammlungen, den sogenannten „Cabildos“ entwickelt.
Chiles Bevölkerung ist aufgewacht. Doch die Politik scheint noch zu träumen und bevorzugt kosmetische Korrekturen des bestehenden Regelwerks. Das wurde jedoch noch in der Diktatur geschrieben und sollte den Status quo möglich lange absichern.