Die Initiative 12. August aus Merseburg sucht in den gesellschaftlichen Verhältnissen der ehemaligen DDR nach Erklärungen, wie sich im Nach-Wende-Osten eine rassistische Pogromstimmung entfachen und der NSU sich bilden konnte
Raúl García Paret und Delfin Guerra kamen 1979 als Vertragsarbeiter aus Kuba in die DDR. Sie lebten und arbeiteten in Merseburg. Nach wiederholten rassistischen Angriffen in den vorhergehenden Tagen setzten sie sich mit etwa 20 weiteren kubanischen Vertragsarbeitern am 12. August 1979 in einer Diskothek gegen die mutmaßlichen Täter*innen zur Wehr. Daraufhin wurden sie von einem rassistischen Mob beleidigt und brutal verfolgt. Als ihnen der Weg auf einer Brücke versperrt wurde, sahen sie keinen anderen Ausweg, als in den Fluss Saale zu fliehen. Die Angreifenden warfen mit Flaschen und Steinen nach ihnen und trafen. Raúl García Paret und Delfin Guerra starben im Alter von 21 und 18 Jahren. Die Todesursache konnte bei einer Leiche nicht festgestellt werden, bei der anderen wurde ein Tod durch Ertrinken festgestellt. Eine Verurteilung von Täter*innen hat es nie gegeben und das rassistische Motiv wurde bis heute nicht anerkannt. Die DDR stellte den Tod den Familien gegenüber als Arbeitsunfall dar.
Am 12. August dieses Jahres wurde von der Initiative 12. August nach 40 Jahren am Ort der mutmaßlichen, rassistischen Morde mit über 200 Teilnehmer*innen die erste öffentliche Gedenkveranstaltung abgehalten. Zuvor fand eine Demonstration statt, auf der struktureller Rassismus in der DDR und dessen Fortbestehen bis heute aus der Sicht Rassismusbetroffener thematisiert wurde. Die Anfang 2019 ins Leben gerufene Initiative 12. August hat in einem offenen Brief mit über 300 Unterzeichner*innen im Juni den Oberbürgermeister Merseburgs Jens Bühligen (CDU) aufgefordert, in einen Dialog über die Errichtung eines Gedenkortes zu treten.
Die Initiative bearbeitet nicht nur die Mordfälle in Merseburg, sondern auch die mutmaßlichen, rassistischen Morde an Antonio Manuel Diogo, 1986 bei Borne, und Carlos Conceição, 1987 in Staßfurt, und möchte mit einem rassismuskritischen Blick die gesellschaftlichen Verhältnisse in der ehemaligen DDR beleuchten. Denn in der DDR wurden sowohl institutioneller als auch gesellschaftlicher Rassismus tabuisiert und verleugnet.
Im Jahr des Wendejubiläums stößt die Arbeit der Initiative auf große Unterstützung und Interesse bei ehemaligen Vertragsarbeiter*innen, Aktivist*innen und antirassistischen Gruppen. Darüber konnten sich die Aktivist*innen weiter vernetzen und ihre Arbeit sichtbar machen. Gleichzeitig stoßen die Aktivist*innen im lokalen Kontext auf große Widerstände und Ablehnung. So diskreditierte der Oberbürgermeister Merseburgs, Jens Bühligen (CDU), die Arbeit der Initiative sehr frühzeitig, indem er ihr „Spekulationen“ unterstellte. Die Staatsanwaltschaft Halle erkennt das rassistische Tatmotiv bis heute nicht an und lehnt erneute Ermittlungen ab. Gleichzeitig rühmen sich heute noch Zeug*innen und mutmaßliche Täter*innen auf Facebook mit ihren Taten und, dass sie damals nur „ihr Revier verteidigt“ hätten. Viele Merseburger*innen unterstellen der Initiative, Lügen zu verbreiten, und fordern sie zum Schweigen auf.
Aktuell versucht die Initiative durch Gespräche mit politischen Parteien einen Antrag im Stadtrat Merseburgs zur Errichtung eines Gedenkortes einzubringen. Die Familie von Raúl García Paret in Kuba hat der Initiative signalisiert, dass es der Schwester des Ermordeten ein großes Anliegen wäre, an einer Gedenkveranstaltung teilzunehmen. Deshalb wird sich aktuell bemüht, Visa und Gelder zu beschaffen, um diesen Wunsch zu ermöglichen. Darüber hinaus versucht die Initiative mit weiteren ehemaligen Vertragsarbeiter*innen Kontakt aufzunehmen, um über ihre Erfahrungen in der DDR ins Gespräch zu kommen. Auch der Osten Deutschlands ist eine von Migration geprägte Gesellschaft. Die Initiative möchte die Erfahrungen und Perspektiven der Generationen von Vertragsarbeiter*innen und ihrer Nachkommen auf die DDR, die (Nach-)Wendezeit und heutige gesellschaftliche Verhältnisse als Narrative weiter etablieren. Es wird daran gearbeitet, Rassismus in der DDR zu einem breiten gesellschaftlichen Thema zu machen, denn zu lange wurde versäumt, Opfer rassistisch motivierter Taten als solche anzuerkennen.