Die Bürgermeisterwahl in Istanbul und ihre Folgen
Mit der Wahl von Ekrem İmamoğlu zum Oberbürgermeister von Istanbul im Juni 2019 gerät die AKP-Herrschaft zum ersten Mal ordentlich ins Wanken. Seit 2002 regierend, sind viele Menschen in der Türkei mit der AKP aufgewachsen und haben sie als alternativlos akzeptiert. Nun macht sich unter den Oppositionellen die Hoffnung breit, dass ein baldiges Ende der Ära der AKP bevorstehen könnte. Aber was dann?
İmamoğlu wurde als Kandidat der Allianz von CHP (Cumhuriyet Halk Partisi, deutsch: Republikanische Volkspartei) und İyi Parti (deutsch: die gute Partei) ins Rennen für die Oberbürgermeisterwahl in Istanbul geschickt. Um zu analysieren, welches Potential in dieser Wahl liegt, müssen wir einen kurzen Blick auf die CHP selbst werfen.
Die CHP wurde von Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk 1923 etabliert. Seine türkische Republik – als Nachfolgestaat des Osmanischen Reiches – entwarf Atatürk als laizistischer, stark zentralisierter und westlicher Nationalstaat mit kapitalistischer Wirtschaftsform. Im Kern machen diese Elemente bis heute die Staatsideologie der Türkei und auch der CHP aus.
Grundlage dieser Staatsideologie ist die Idee der Überlegenheit der türkischen Ethnie. So ging die mehrstufige Durchsetzung dieser als Kemalismus bekannten Staatsideologie mit Massakern an der kurdischen Bevölkerung einher und erzwang auch die Assimilierung von Armenier_innen, Griech_innen und anderen nicht-ethnischen Türk_innen sowie nicht-sunnitischen Muslim_innen in der Türkei. Progressive soziale Bewegungen und Kämpfe wurden von der CHP bzw. von dem ihr nahestehenden Militär mit Gewalt niedergeschlagen. Auch Teile der religiösen Bevölkerung der Türkei fanden sich der Unterdrückung durch kemalistische Reformen ausgesetzt, wie etwa das erzwungene Ablegen von religiösen Kopftüchern beim Betreten öffentlicher Einrichtungen. Gerade die Stimmen dieser Bevölkerungsgruppe verhalfen schließlich der AKP zum Sieg in den Parlamentswahlen 2002. Hier gaben sich die Vertreter der AKP als volksnah und fromm im Gegensatz zu der als elitär und verwestlich markierten CHP. Als Oppositionspartei konnte sich die CHP, mit ihrer staatstragenden Ideologie, jedoch nicht etablieren. AKP Projekte, wie die Militäroperation im syrischen Bürgerkrieg allgemein und gegen die Kurd_innen in Rojava, unterstützte auch die CHP bedingungslos. Auch bei der Anti-Terror-Gesetzgebung war die CHP auf AKP-Linie.
Alle für einen, einer für alle
17 Jahre später sind die Beliebtheitswerte der AKP und des Präsidenten Erdogans an einem bisherigen Tiefpunkt angelangt. Sein autokratischer Kurs wird inmitten der Wirtschafts- und Währungskrise in der Türkei selbst von seiner Stammwähler_innenschaft kritisiert. Dabei bilden Vetternwirtschaft und Prunksucht nur die Spitze. In alledem erscheint CHP und İYI Parti Kandidat Ekrem İmamoğlu als nice guy auf der Bühne, ein Saubermann, der der Korruption in der Istanbuler Stadtverwaltung ein Ende bereiten will. 2005 der CHP beigetreten, kletterte er die Parteileiter nach oben und wurde 2014 in das Amt des Bürgermeisters des Istanbuler Bezirks Beylikdüzü gewählt. Seine Amtszeit als Bürgermeister verlief unauffällig, sodass er bis zur Verkündung seiner Kandidatur in den Kommunalwahlen in der Türkei kaum bekannt war. Nominiert wurde er von einer Allianz aus CHP und İYI Parti. Die İYI Parti vertritt rassistische und nationalkonservative Positionen, wurde sie doch von ehemaligen Mitgliedern der MHP („Grauen Wölfen“) gegründet. Unterstützt wurde diese Allianz auch von der HDP (Halklarin Demokratik Partisi, deutsch: Demokratische Partei der Völker), einer Partei, die sich in den letzten Jahren von einer pro-kurdischen Partei zu einer Schirmpartei für linksgerichtete Oppositionelle entwickelt hat. Sie verzichtete auf die Nominierung eigener Kandidat_innen in mehreren Städten der Türkei. Der inhaftierte ehemalige HDP-Chef Selahattin Demirtas sprach seine Wahlempfehlung für İmamoğlu aus, indem er zur „Wahl gegen den Faschismus“ aufrief. Dabei ist klar: Es geht nicht um den Sieg İmamoğlus, sondern um ein Ende der AKP Herrschaft. Das ist bemerkenswert vor dem Hintergrund, dass es noch vor Jahren für die HDP undenkbar war, als pro-kurdische Partei zur Wahl der CHP aufzurufen – einer Partei, die lange Zeit sogar die Existenz von Kurd_innen negiert hat und auf deren Konto mehrere Massaker an der kurdischen Bevölkerung gehen. Einzig linksradikale Gruppen sprachen weder eine Wahlempfehlung für die CHP noch für andere „System-Parteien“ aus.
„Alles wird gut!“
Aufgrund der Bandbreite an Positionen, die sich hinter İmamoğlu versammelten, verfolgte dieser in seinem Wahlkampf eine „low profile“-Strategie und vermied es geschickt kontroversielle Themen anzuschneiden. Eigentlich sprach er kaum. Auch seine Wahlversprechen unterschieden sich nur marginal von denen anderer Kandidat_innen für dieses Amt: mehr Unterstützung für Studierende, Familien und Bedürftige, neue Arbeitsplätze, mehr Grünflächen in der Stadt, eine Lösung für das chronische Verkehrsproblem und mehr Transparenz in der Stadtverwaltung. Sogar AKP Kernwähler_innen haben was für ihn übrig: Während des Wahlkampfs ließ er sich beim Fastenbrechen fotografieren und gab sich fromm. Ein freundlicher, bescheidener Mann mit weißer Weste, der dem von Wirtschaftskrise und Korruptionsaffären gebeutelten Istanbul vor allem eins versprach: „Alles wird gut“!
Bei den Kommunalwahlen im März 2019 gewann İmamoğlu die Wahl zum Oberbürgermeister von Istanbul mit einem knappen Vorsprung von 24.000 Stimmen vor seinem Konkurrenten, dem ehemaligen Ministerpräsident Binali Yildirim, Kandidat des Bündnisses von AKP und der ultrarechten, rassistischen MHP. Die AKP brachte daraufhin Klage auf Wahlwiederholung wegen angeblichen Unregelmäßigkeiten beim Hohem Wahlausschuss ein, der dieser schließlich mit 7 zu 4 Stimmen stattgab. Die anschließende Annullierung der Oberbürgermeisterwahl sorgte sowohl in der Türkei wie auch international für großes Aufsehen – der AKP wurde diktatorisches Handeln vorgeworfen, indes wuchs der Zuspruch für İmamoğlu. Bei der Wahlwiederholung knapp vier Monate später gewann İmamoğlu ein zweites Mal und holte mit 54 Prozent der Wähler_innenstimmen 800.000 Stimmen mehr als sein Konkurrent Yildirim. Ein historisches Ereignis für Istanbul, bei dem 25 Jahre AKP Regierung tiefe Spuren im Stadtbild wie auch im sozialen Leben hinterlassen haben. Freie Hand in Istanbul hat İmamoğlu dennoch nicht: Im ebenfalls im März 2019 gewählten Stadtrat Istanbuls hat weiterhin die AKP und ihre Allianzpartnerin MHP die Mehrheit.
Die Kommunalwahlen haben die politische Landschaft verändert. Zwar ging die AKP landesweit noch immer als deutlich stärkste Kraft hervor, die CHP stellt jedoch den Bürgermeister in 5 der 6 größten Städte in der Türkei, unter ihnen auch Ankara. Dem Think Tank Edam zufolge ist damit zwei Drittel der Wirtschaft der Türkei durch die CHP verwaltet.
HDP als Königsmacherin
Ohne die Stimmen der HDP Anhänger_innen hätte İmamoğlu die Wahl nicht gewonnen. Doch nicht nur die CHP maß einer pro-kurdischen Politik eine gewichtige Rolle bei den Kommunalwahlen zu. Auch die AKP zeigte sich ungewöhnlich freundlich gegenüber der kurdischen Bevölkerung in der Türkei. Kurz vor der ersten Wahl etwa wurde die Wähler_innenschaft mehrmals mit „Meine kurdischen Freunde“ adressiert, hin und wieder sogar ein kurdisches Wort eingestreut. Am Tag der Verkündung der Annullierung der Oberbürgermeisterwahl hob Erdogan das seit 2011 währende Kontaktverbot Abdullah Öcalans mit seinen Verteidigern auf. Abdullah Öcalan ist der Mitbegründer der PKK (Partiya Karkerên Kurdistanê, deutsch: Arbeiterpartei Kurdistan), welche von der Türkei und der Europäischen Union als Terrororganisation eingestuft wird. Daraufhin ließ Öcalan verkünden – wenn auch sehr kryptisch –, Kurd_innen sollten weder CHP noch AKP wählen, sondern mit der HDP ihren eigenen Weg gehen. Auswirkungen auf das tatsächliche Wahlergebnis konnten nicht ausgemacht werden.
Neue Besen kehren gut
Auch mit der erneuten Wahl zum Oberbürgermeister blieb İmamoğlu seiner Rolle als Saubermacher treu. Durch den Machtwechsel hat die CHP nun Zugang zu den Büchern der Stadtverwaltung und kann dadurch korrupte Machenschaften aufdecken, was zu einem nachhaltigen Imageschaden der AKP führen könnte. Erste Schritte zur Korruptionsbekämpfung hat İmamoğlu bereits getätigt: Er strich die öffentlichen Gelder für mehrere AKP nahe Stiftungen und machte eine Handvoll Korruptionsfälle in der Stadtverwaltung öffentlich. „Von nun an ist mit den Begünstigungen für ein paar ausgewählte Stiftungen, Vertraute und Gemeinden Schluss, von nun an wird ganz Istanbul begünstigt“, verkündete er. Auch andere Wahlversprechen hat er bereits umgesetzt: Die U-Bahn fährt nun an den Wochenenden in Istanbul rund um die Uhr, der Studierendenpreis für die Monatskarte des öffentlichen Verkehrs wurde gesenkt. Die Stimmung ist gut.
Sein Blick ist aber schon längst nicht mehr nur auf Istanbul gerichtet. Bereits während des Wahlkampfs hat İmamoğlu mehrere türkische Städte besucht und dort für seine Allianz geworben. Nach der Amtsenthebung der pro-kurdischen HDP Bürgermeister_innen in Van, Mardin und Diyarbakir durch die AKP Regierung, reiste İmamoğlu in die zwangsverwalteten Städte im mehrheitlich von Kurd_innen bewohnten Osten der Türkei – ein Zeichen, das sich İmamoğlu auch der Unterstützung der Kurd_innen für zukünftige Präsidentschafts- bzw. Parlamentschaftswahlen sicher sein will. Eine Neuheit in der türkischen Politik, deren „Systemparteien“ sich von der HDP bisher distanziert gezeigt haben und diese immer wieder in einen Zusammenhang mit Terrorismus und der PKK stellten.
Die nächsten Wahlen sind für 2023 angesetzt, doch schon jetzt rechnen alle mit einer Vorziehung, die das Aus für die AKP Regierung bedeuten könnte. Aber dafür muss die CHP mit ihrer kantenlosen Galionsfigur Ekrem İmamoğlu weiterhin die Allianz mit der İYI Parti bemühen und darf die Rückendeckung durch die HDP nicht verlieren. Inmitten der Euphorie um den Sieg İmamoğlus darf die Hoffnung die AKP auch in der Regierung abzulösen nicht mit der Hoffnung verwechselt werden, dass damit eine emanzipatorischere Politik einherginge. Es wäre schließlich nicht das erste Mal, dass die CHP, sobald sie an die Macht kommt, faschistische Methoden gegenüber Oppositionellen einsetzt. Ob die HDP mit der Unterstützung İmamoğlus eine nachhaltige Verbesserung der Situation der Kurd_innen in der Türkei und anderer linker Kräfte erwirken könnte, bleibt, besonders im Hinblick auf die Geschichte der CHP, mehr als fraglich.
Übersetzung: Sophie Haas