Gestörtes Störendes (#11)
Ich war mal auf einem Vortrag von Margrit Schiller, die im Umfeld der RAF (Rote Armee Fraktion) und des SPK (Sozialistisches Patientenkollektiv) aktiv war. Da sie ihren Vortrag am Institut für Psychologie abhielt, stieß ihre Zeit beim SPK auf mehr Interesse. Das Gespräch kam naheliegenderweise auch auf den Komplex „psychische Erkrankung“ und Psychiatrie. Schiller sagte dann sinngemäß, dass ihrer Einschätzung nach inzwischen die Psychiatrie eine der zentralen Stützen des Kapitalismus sei. Wie kommt sie zu dieser Aussage? Aufgrund meiner langjährigen Tätigkeit in einem medizinisch-psychiatrisch dominierten Feld, der Drogenhilfe, kann ich nicht anders, als ihr absolut zuzustimmen. Wie komme ich zu dieser Reaktion?
Die Psychiatrie trat an, sich um Ver-Rückte zu kümmern. Wie sie das tat, war in der Regel nicht zum Vorteil der Betroffenen, sondern der Gesellschaft in dem Sinne, dass es einen Ort gab, wo diese verwahrt wurden. Mit der zufälligen Entdeckung der Psychopharmaka dachte die Psychiatrie, nun den physiologischen Schlüssel „psychischer Störungen“ gefunden zu haben, der ihr endlich die Anerkennung der anderen medizinischen Disziplinen als ebenbürtig bringen würde. Daher wurde eine Wirkungstheorie der Psychopharmaka entwickelt, nämlich dass bei den Betroffenen ein Ungleichgewicht der Neurotransmitter bestehe, ein Überschuss an Dopamin bei Schizophrenie, ein Mangel an Serotonin bei Depressionen. Es ist bei der Hypothese geblieben, da seit über einem halben Jahrhundert kein Beweis dafür gefunden werden konnte. Stattdessen werden trotz teilweise massiver Nebenwirkungen und großer Probleme beim Absetzen für immer mehr Indikationen immer mehr Psychopharmaka verschrieben, als wären sie Placebos. (Antidepressiva könnten von der erwünschten Wirkung her sogar als solche bezeichnet werden, aber leider nicht von den Nebenwirkungen her.)
Es gibt durchaus viele Menschen, denen Psychopharmaka helfen – ungewusst, wie –, doch mir ist in meiner langjährigen klinisch-psychologischen Praxis noch niemand untergekommen, die_der mir umfassend über die Nebenwirkungen aufgeklärt schien. Meines Erachtens liegt das daran, dass die Nebenwirkungen von den Psychiater_innen und sonstigen Ärzt_innen nicht ernst genug genommen werden. Im Gegenteil wird an die Wirksamkeit und Notwendigkeit dieser Medikamente geglaubt. Neulich wurde ich in meiner Arbeit belächelt, weil ich die nach Absetzen der Medikation (endlich!) wieder auftauchenden Gefühle der Wut und Aggression des Klienten als Ausdruck seiner konkreten Situation und Geschichte und als notwendigen Schritt im therapeutischen Prozess sah und nicht als Wiederauftauchen seiner „psychischen Erkrankung“. Meines Erachtens erfüllen Diagnosen, Störungslehren, Krankheitsdenken auf psychischer Ebene eine Distanzierungsfunktion. Zum einen kann ich die Lebenslage, das Erleben der Person, ihre Not, ihre Art der Verarbeitung durch diese Distanzierungstechniken von mir und meiner Lebenslage fernhalten. Andererseits kann ich auch meine Verstrickung in und mein Mitwirken an herrschenden Strukturen ausblenden und verdrängen.
Das heißt also, dass ich mich davon überzeugen kann, dass diese Person nichts mit meinem (Er-)Leben zu tun hat und dass ich auch nichts mit ihrem zu tun habe. Wie zwei Satelliten, die im leeren All sich kreuzen und knapp, aber doch verfehlen. Dieses Bild passt doch ganz gut zur neoliberalen Ideologie der Einzelkämpfer_innen, der Schmied_innen des eigenen Glücks, der Selbstverantwortung und Selbstverschuldetheit, der Stehaufmännchen und -frauchen, der sich mit eigener Kraft Hocharbeitenden, der Unabhängigen und Freien.
Somit schließt sich der Kreis zum zitierten Eingangsstatement von Margrit Schiller. Die biolog(ist)ische Psychiatrie betreibt systematisch „Befriedungsverbrechen“ (Franco Basaglia), indem sie keinen Atemzug an die Bedingungen verschwendet, unter welchen die notleidenden Menschen ihr Leben führen, sondern sie mit bis auf die Nebenwirkungen wirkungslosen (Antidepressiva) oder mit unangenehm dämpfenden Medikamenten (Neuroleptika, mit teilweise massiven Nebenwirkungen) vollstopft, ohne wirklich zu wissen (oder wissen zu wollen?), was sie da eigentlich tut. Ich sage nicht, dass eine ideale Gesellschaft frei von „psychischen Störungen“ wäre, es geht hier also nicht darum, diese zu negieren. Viele Menschen leiden entsetzlich unter ihren psychischen Zuständen und es soll ihnen geholfen werden. Das tut die Psychiatrie nur sehr bedingt. Ihre Hauptaufgabe ist die Konzentration aufs Individuum und die Ablenkung von den Strukturen.