Über Flure, Räume und Stühle. Von Haltungen, Positionen und Plätzen. Eine Skizze vergeschlechtlichender Gewalt
Hinweis: Dieser Text schildert Szenen von geschlechtsbezogener Gewalt. Alle Namen wurden von der Autorin geändert.
„Martina ist wunderbar. Mit ihrem langen blonden Haar.“ Toms Stimme schallt durch den Schulgang, triumphal grinsend steht er vor diesem Jungen, um sie herum Schüler*innen aus ihren Klassen. Der Junge lächelt gequält, resigniert. Er weiß, da ist nichts, was er tun kann. Klar ist nur: Es ist nicht das erste Mal, es wird nicht das letzte Mal sein. Und: Es macht keinen Sinn, sich irgendwie zu wehren. Die umstehenden Klassenkamerad*innen, darunter solche, die der Junge prekär zwar, aber doch als seine Freund*innen begreift, sie schreiten nicht ein. Es ist nicht das erste Mal, es wird nicht das letzte Mal sein. Die Szene ist allen vertraut. Sie ist zur Normalität geworden: Vor dem Sportunterricht, vor dem Religionsunterricht, im Flur oder auf dem Hof in der Pause. Toms Rufen ist anstelle der Scheren getreten, die hinter dem Rücken des Jungen klappern, wenn er sich im Klassenzimmer hinsetzt. Ein Klappern, das auf seine langen Haare zielt. Ein Klappern, das ihm ständig in seinem Nacken sitzt.
Sicherlich haben seine Mitschüler*innen Toms Rufen, wahrscheinlich haben sie auch die Scheren inzwischen vergessen. Zehn, zwölf Jahre sind eine lange Zeit. Auch ich hätte diese Szenen, auch ich hätte ‚diesen Jungen‘ gerne vergessen. Nur zu gerne hätte ich sie, hätte ich ‚ihn‘ verdrängt, ausgelöscht wie die Momente, in denen absurde Körpernormen von meinen Mitschüler*innen lauthals und unverschämt verlangt wurden. Nur ich kann nicht. Dieser Junge bin nicht ich, aber doch ist er „eine Art reale Präsenz“ wie Annie Ernaux in Erinnerungen eines Mädchens über ihr „Ich“ von 1958 schreibt. Ich bin nicht mehr ‚dieser Junge‘ von 2007, 2008, 2009, 2010, der sich nur als Junge verstehen konnte, weil er nichts anderes als Jungen und Mädchen kannte, weil er nichts wusste von Trans*geschlechtlichkeit. Aber als ‚dieser Junge‘: blondes, langes Haar, Markenklamotten, in denen ‚er‘ sich nicht wohlfühlte, die ihm aber einen Panzer zu versprechen schienen, wurde ich beschämt. Es ist die Scham ‚dieses Jungen‘, die mich heute schreiben lässt, die mir keine Ruhe lässt, noch nie ließ. Es ist ‚seine‘ Wahrnehmung des Moments, die mich, zwingt, mich zu erinnern. Die Verletzungen trafen mein „Ich“, dass ich als Junge verstand und genau deshalb trafen sie, brannten sich in mir ein, in genau dieser Weise. Vielleicht kann ich nur über sie sprechen, weil ich nicht mehr ‚dieser Junge‘ bin, weil die Beschämungen in einer trans* Biografie ihren Platz finden, weil mein aktuelles geschlechtliches Selbstverständnis nicht mehr in der Form, auf diese Weise beschämbar wäre, wie mein damaliges. Dennoch: die Sprache stockt, bleibt spröde.
Nähe und Distanz
Die Hände klammern die Knöchel, der Blick ist abgewandt, geht ins Leere. Ich spreche mit einer Freundin, wir haben uns lange nicht mehr gesehen. „Ich würde dir gerne was erzählen. Es ist etwas Ernsthaftes, wenn es für dich eben passt.“ „Mhmm, gern.“ Schweigen. „Du. Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll …“ Ich starre angestrengt auf die Wand, spreche hart, fast kalt. Ich will sachlich bleiben. Das schützt mich. „Ich war ja mit Leuten in Indien, auf Austausch. Danach haben wir uns als Gruppe noch ein paar Mal getroffen. Das waren linke oder zumindest liberale Leute. Da war Mara mit dabei, mit der ich befreundet war. Und andere ‚Freunde‘.“ Ich spreche das Wort besonders hart aus. Zögere kurz, verunsichert über das Wort und die Beziehungen, die es suggeriert, bitter über die Sicherheit, die es versprach. „Wir waren an einem Abend bei Maras Eltern in der Wohnung. Kochen. Und … ich weiß nicht wieso oder wie das angefangen hat. Es waren bestimmt zehn oder zwölf Leute da. Sie haben mich zusammen auf nen Stuhl gedrückt. Ich konnte nicht weg.“ Ich werde hektisch, will nicht die Kontrolle verlieren, nicht die Ohnmacht spüren, die aus dem Satz spricht. „Ich hab nur gelacht, weil ich wusste nicht, was ich hätte tun können. Sie haben mich stereotyp weiblich geschminkt. Mit Puder, mit Wimperntusche, mit Kajal. Sie haben mir die Haare geglättet – mit dem Glätteisen. Dann haben sie Fotos gemacht. Alle, und gelacht. Mara hat nichts gesagt. Niemand hat was gesagt… Der Abend bei Mara ist dann ganz normal zu Ende gegangen.“ Wieder zögere ich. Die Formulierung klingt grotesk. „Daheim bin ich schnell nach oben, dass niemand mich bemerkt. Dann hab ich geduscht, lange, bestimmt eine dreiviertel Stunde. Ein paar Mal hab ich die Haare gewaschen, damit die Locken zurückkommen, damit meine Eltern nichts mitbekommen. Davor hatte ich panische Angst. Ich hab mich vor ihnen geschämt. Bis heute hat sich keine und keiner entschuldigt.“ Ich stocke, höre die Freundin weinen. „Das ist furchtbar“, sagt sie. „Ja.“, antworte ich vage, fragend. Dann beginne ich selbst zu weinen. Ihr Weinen erlaubt es mir, die Verletzung zu spüren.
Doch gibt es kein magisches Band der Solidarität, des Verständnisses, das jene verbinden würde, die Gewalt unterworfen waren. Oft schafft Gewalt Distanz, Härte zwischen den unter ihr Leidenden. Wenn Studienkolleg*innen in Seminaren ankündigen, zu Gewalt und Geschlecht schreiben zu wollen, werde ich unruhig. „Wie langweilig“, sage ich mir dann, kühl, affektiert, auch verächtlich. Schnell versuche ich dann das Unbehagen beiseite zu schieben, das sich um meinen Kehlkopf breitmacht, „Haben das nicht schon alle gemacht?“ Nun schreibe ich selbst, und merke, wie ich nach Worten ringe, wie mein Hals eng wird, wie ich den Text über Tage liegen lasse, weil die Scham über das Erlebte mich einnimmt, weil ich Angst vor der Trauer habe, die immer wieder aufkommt, wenn ich an meine Erfahrungen zurückdenke. Mehr noch, weil ich es mir eingestehen muss: Diese Gewalt ist ein Teil von mir. Ohne diese Gewalt wäre ich nicht dieselbe, ohne sie gäbe es mich in der Form nicht.
Gewalt macht Geschlecht
Entsprechend ist auch mein Geschlecht als Teil meiner Existenz unlösbar mit dieser Gewalt verwoben. Sie hat sich in mir eingeschrieben, in der Weise, wie ich mein Geschlecht präsentiere, wie ich es lebe, in meiner Existenzweise und meinen Affekten: beim abends alleine spazieren, lieber Hose als Rock, lieber die Schultern breit und der Blick kühl musternd auf meinem Gegenüber, der am Gehsteig entgegenkommt, lieber wachsam und bestimmt, lieber distanziert und roh als nahbar und verletzlich.
Sich an diese Gewalt zu erinnern, vergegenwärtigt mir, auf welches Terrain ich mich begeben habe, als ich – warum auch immer – von der Norm des mir zugeschrieben Geschlechts abgewichen bin und auf welches Terrain ich mich damit tagtäglich begebe. Dabei bin ich nicht trans*, weil ich als mich männlich begreifendes Kind und Jugendliche*r vergeschlechtlichte Gewalt erfahren habe. Doch in der Weise, wie meine Trans*geschlechtlichkeit sich entwickelte, in der Art, wie ich sie lebe, ist sie untrennbar verwoben mit dieser Gewalt. So ist mein Geschlecht geprägt von dieser Gewalt.
Dabei wirkt diese Gewalt wie die tagtäglichen Blicke und unerwünschten Berührungen von Verwandten und Fremden, die cis Frauen zu passiven Objekten zu degradieren versuchen, die beschaut, auf die zugegriffen werden kann. Gleich der Blicke, gleich der Berührungen, die cis Frauen zu verstehen geben sollen, das ‚passive und verletzliche Geschlecht‘ zu sein, weist die von mir erlebte Gewalt mir einen Platz und eine Rolle in der Geschlechterordnung zu. Wenn die Jugend die Zeit ist, in der sich aus Kindern Frauen und Männer zu entwickeln haben, dann kann ich nicht anders, als die erfahrene Gewalt, die immerzu Geschlechternormen zitierte, als Teil meines trans* Werdens zu begreifen. Denn ist Adoleszenz die Zeit, in der sich geschlechtliche und sexuelle Selbstverständnisse vertiefen und der Geschlechterkörper mit neuer sexualisierter Bedeutung aufgeladen wird, dann gibt es ab diesem Alter kein Geschlecht mehr ohne diese Gewalt. Nicht für mich. Und auch nicht für die mich Umgebenden. Denn die Gewalt fand vor ihnen statt, sie war öffentlich.
Diese unmittelbare, zwischenmenschliche Gewalt kommunizierte meinen Mitschüler*innen, was geschieht, wenn von der geschlechtlichen Norm abgewichen wird. Sie urteilte, es sei legitim, diese Abweichungen mit Gewalt zu sanktionieren. Dabei ist diese Gewalt Teil jener geschlechtsnormierenden Gewalt, die Regeln des geschlechtlichen Verhaltens und Seins inszeniert und durchsetzt, vergeschlechtlichte Haltungen, Gesten, Rollen, Positionen, Orte zuweist. Verwiesen ist diese unmittelbare zwischenmenschliche Gewalt auf die herrschenden Regime heteronormativer Zweigeschlechtlichkeit. Durch diese Regime erfährt sie sich legitimiert: durch mediale Bilder, Toilettenschilder, medizinische Geschlechtszuweisungen. Doch diese zwischenmenschliche Gewalt ist mehr als deren bloßes Zitat. Es ist die unmittelbare Sanktion sowie die in ihr enthaltenen erleidenden wie lust- und machtvollen Rollen, die die Normen plastisch werden lässt, sie in die Körper einschreibt. Nicht ohne diese unmittelbare, physische und psychische Gewalt ist entsprechend auch das Geschlecht meiner Mitschüler*innen zu denken. Als Zeug*innen und Täter*innen haben sie über ihre Plätze gelernt: Das Geschlecht, welches zur Geburt zugewiesen wird, ist nicht zu verlassen und kaum frei zu gestalten. So produziert zwischenmenschliche Gewalt Geschlecht.