MALMOE

Ist die Sozialdemokratie noch zu retten?

Bhaskar Sunkara sucht nach den Grundprinzipien einer sozialistischen Gesellschaft

Bhaskar Sunkara – Gründer und Herausgeber des Magazins Jacobin – möchte mit The Socialist Manifesto ein breites Publikum adressieren und ihm klarmachen: Wir brauchen Sozialismus – eine Welt ohne privates Eigentum an den Produktionsmitteln, in der Demokratie, Mitbestimmung und Teilhabe die Grundlage gesellschaftlicher Reproduktion sind.

Sunkara analysiert die Ansätze sozialistischer und sozialdemokratischer Bewegungen, ihre Stärken und Schwächen. Aus ihrem Scheitern versucht er zu verstehen, was es für eine gegenwärtige progressive, sozialistische Bewegung braucht. Diese muss eine Massenbasis haben: „Marx believed that socialism came from the struggle of workers, not the plans of a few intellectuals.“ (47) Für Sunkara darf die Partei nicht nur eine Organisation sein, die Wahlen bestreitet, sondern muss als kultureller Raum Identität schaffen. Anstatt die Arbeiter_innenklasse einfach nur als Elektorat zu begreifen, soll ihr so eine Infrastruktur geboten werden, an der sie teilhaben kann. In Hinblick auf die deutsche Sozialdemokratie des frühen 20. Jahrhunderts schreibt Sunkara beispielsweise: „The SPD wasn’t just a party: it was an alternative culture …“ (61). Grundsätzlich zeichnet Sozialismus aber auch die Forderung nach Demokratie in allen Lebensbereichen aus: „… socialism essentially meant radical democracy“ (47). Damit einhergehend sei die radikale Demokratisierung und Selbstemanzipierung von Arbeiter_innen zentral, aber nicht ihre Funktion als „tool for state-managed development“ (152).

Dieser Punkt ist Basis der Kritik, die Sunkara an die Sozialdemokratie richtet. In seiner Kritik ist Sunkara aber nie verächtlich, vielmehr weist er auf die strukturellen Zwänge und Engführungen hin, an denen sozialdemokratische Politikentwürfe scheitern. Die geschichtlichen Betrachtungen, die einen Großteil des Buches ausmachen, führen zu einem Schluss: „parties that were forces for working-class reform became capital’s junior partners“ (230). Denn zu groß ist die strukturelle Macht des Kapitals: Arbeiter_innen brauchen Firmen, die profitabel sind, um beschäftigt zu bleiben. Und das Programm der Sozialdemokratie baut auf wirtschaftlichem Wachstum und damit (sozial abgefederten) Ausbeutungsverhältnissen auf. Doch, so weit, so klar, die Widersprüche und die Krisentendenz im Kapitalismus können nicht innerhalb des vorfindbaren Rahmens gelöst werden. Es braucht, so Sunkara, einen Bruch. Einen Bruch mit den Eliten, einen Bruch mit der Art des Produzierens und einen Bruch mit der ungleichen Verteilung von Macht, Ressourcen und Reichtum. Für diesen Bruch braucht es eine neue Art sozialdemokratischen Handelns, in der nicht die Befriedung von Klassenkonflikten im Mittelpunkt steht.

Mit Bernie Sanders in den USA und Jeremy Corbyn in Großbritannien sieht Sunkara zwei Proponenten einer solchen Spielart sozialdemokratischen Handelns, die er klassenkämpferische Sozialdemokratie („class struggle social democracy“) nennt. Darunter versteht Sunkara eine Form, linke Politik zu machen, die eine positive Veränderung gesellschaftlicher Ausbeutungsverhältnisse durch die Mobilisierung von unten erreichen will. Die politischen Projekte von Sanders und Corbyn sind noch nicht sozialistisch, in ihnen geht es nicht um die Vergesellschaftung der Produktionsmittel und Ähnliches, aber sie gehen im Vergleich zur gängigen Sozialdemokratie schon einen Schritt weiter: „It’s not just what they’re fighting for; it’s how they’re fighting for it“, sagt der 29-jährige Sunkara in einem Interview dazu.

The Socialist Manifesto ist ein Buch, dessen Zeilen durch ihre Leichtigkeit beflügeln (wo sonst werden in sozialistischen Schriften die Backstreet Boys zitiert?!). Sunkaras Argument baut auf einer sehr selektiven historischen Betrachtung sozialdemokratischer und sozialistischer Gesellschaftsentwürfe auf. Sein Fokus liegt nur auf Parteien, zwischendurch offenbart sich ein romantisches Bild auf Sowjet­russland; er ignoriert innerlinke Kritik an traditionellen Kommunismuskonzepten und verkürzt die Geschichte sozialistischer Bewegungen in den USA. Gerade diese Selektivität vereinfacht den Blick auf die Kernaussage des Buches: Sozialist_innen müssen sowohl in der Gesetzgebung Mehrheiten gewinnen als auch eine hegemoniale Stellung innerhalb der Gewerkschaften erreichen. Soziale Macht soll über diese Organisationen in Form von Massenmobilisierungen und politischen Streiks die strukturelle Macht des Kapitals herausfordern – ein Schritt, den die Sozialdemokratie so nie gewagt hat. Und es sind die Bewegungen von unten, die das jeweilige Führungspersonal (an mehreren Punkten in dem Buch votiert Sunkara für ein Delegiertensystem) drängen, die Konfrontation mit den Eliten zu suchen.

In erfrischender Weise stellt Sunkara die Notwendigkeit von Selbstorganisation, die Umverteilung von Macht und Reichtum und das Einstehen für Demokratie für einen sozialistischen Gesellschaftsentwurf in den Vordergrund. In seinen Schlussfolgerungen zeigt er uns unter dem Motto „How we win“, was wir tun können, um einer befreiten Gesellschaft ein Stück näherzukommen. Sozialismus heißt mehr Demokratie „and to believe that ordinary people can shape the systems that shape their lives“.

Bhaskar Sunkara (2019): The Socialist Manifesto. The Case for Radical Politics in an Era of Extreme Inequality, Basic Books, New York