Die neue grüne Vizebürgermeisterin Birgit Hebein im Interview
Die Wiener Vizebürgermeisterin hat sich Samstag Früh Zeit genommen, um mit MALMOE in einem (nicht-)repräsentativen Café in ihrem Heimatbezirk Rudolfsheim-Fünfhaus zu sprechen. Da soll noch eine_r sagen, in Wien stehe man nicht früh auf. Die langjährige Aktivistin wird zum linken Flügel der Grünen gezählt und hat sich den kritischen Nachfragen unserer Redaktion gestellt.
Es ist 08:15 Uhr und wir fragen an der Bar, ob denn die Vizebürgermeisterin reserviert habe und werden auf einen Platz gewiesen. Dort bleiben wir nicht lange, denn sowohl Birgit Hebein als auch MALMOE wollen im Freien sitzen. Kaffee wird bestellt und das Du-Wort angeboten.
MALMOE: Guten Morgen, Birgit Hebein. Du hast bereits des Öfteren verlautbart, dass du auch im Winter mit dem Fahrrad in die Arbeit fährst. Bist du heute mit dem Fahrrad da?
Hebein: Das wäre inszeniert, wenn ich das jetzt sage, weil ich wohne hier um die Ecke. Aber ja, ich bin eine Sommer- wie Winterradlerin und ja, gelegentlich borge ich mir ein Auto aus oder fahre mit den Öffis. Mein Fahrrad ist tatsächlich ein Stück alltägliche Freiheit für mich.
Was für ein Fahrrad fährst du eigentlich?
Ein gutes Fahrrad, es ist schon ein paar Jahre alt, ein Trekking-Rad.
Du hast einen beschaulichen Werdegang hingelegt. Hochschulpolitik, Sozialarbeit, Bezirks- und Landtagspolitik und nun amtierst du als Vizebürgermeisterin Wiens. Du warst eine jener Personen, die man bei jedem linken Protest und bei jeder Gedenkveranstaltung angetroffen hat, bei Demonstrationen stets da, um junge Aktivist_innen aus den Polizeikesseln herauszudiskutieren. Was ändert die neue Position an deiner politischen Teilhabe? Wird man dich trotz dieser zeitintensiven Aufgabe noch auf der Straße treffen?
Ja, ich komme aus einem kleinen Dorf, aus einfachen Verhältnissen und nein, ich sehe es nicht so, als hätte ich mich hinaufgearbeitet, wie ihr das formuliert. Das Leben hat sich verändert und es waren immer wieder Begegnungen mit Menschen, die dazu beigetragen haben, dass ich jetzt da stehe, wo ich stehe. Aber ich sehe es nicht als Aufstieg, das impliziert, dass es früher was war – ein Abstieg? Es stimmt, ich habe jetzt sehr viel Verantwortung aber ich ändere doch nicht meine Grundhaltungen. Ich bin Antifaschistin, ich bin weiterhin aktiv im KZ-Verband, ich bin Mutter, ich bin Freundin, Nachbarin. Es ist also nicht notwendig, mich auf eine Funktion zu reduzieren.
Was nimmst du aus diesen Erfahrungen mit in die neue Funktion und was lässt sich deiner Ansicht nach top-down besser umsetzen als bottom-up?
Mein Zugang ist, dass Politik nur gemeinsam funktionieren kann. Je mehr Druck auf der Straße passiert – und das merkt man an der Jugendbewegung Fridays for Future –, desto eher habe ich Möglichkeiten, in der Politik Konkretes einzufordern und umzusetzen. Gleichzeitig habe ich natürlich Verantwortungsbereiche, wo ich lenke und steuere. Zum Beispiel wenn ich eine Hitzekarte von Wien erstellen lasse, die zeigt, wo es am heißesten ist, wo am wenigsten Grünraum ist und wo die meisten alten Menschen und Kinder leben, die am ärgsten von der Hitze betroffen sind. Wenn ich dann eine Woche später Straßen absperren lasse, wie beim Projekt „Coole Straßen“, dann steuere ich zwar, aber die Coolen Straßen sind nur gut, wenn die Bevölkerung sie benützt. Das heißt, die haben sich den öffentlichen Raum zurückerobert. Da ist plötzlich unglaublich viel Leben passiert. Kinder haben sich den Raum genommen genauso wie Erwachsene, die größte Couch von Wien wurde hingestellt, Theater gespielt, die alten Leute haben sich auf die Bankerl gesetzt und geplaudert. Also ich denke, dass das nur gemeinsam möglich ist.
Die grüne Stadtpolitik hat diesen Sommer vor allem mit diesen Coolen Straßen geworben. Im Nationalratswahlkampf geht es vorwiegend um Ökologie und um den „Anstand“ gegen rechts. Was würden Sie Kritiker_innen antworten, die dies unter dem Posten „Grüne Wohlfühl-Politik“ verbuchen und klassische linke Themen um die soziale Frage vermissen? Was können die Grünen diesen Menschen bieten?
Linke Politik ist Umweltpolitik, ist Verteilungspolitik. Ich habe jetzt das Beispiel der Coolen Straßen genannt. Was ist daran nicht in Ordnung, wenn man dafür sorgt, dass sich Menschen in der Stadt wohlfühlen? Außerdem, bei dieser Hitze … Die Wohlhabenden leisten sich die Häuser im Grünen und für die Menschen, die hierbleiben, ist es doch gut zu schauen, dass sie sich wohlfühlen. Dieses Schwarz-Weiß finde ich nicht angebracht. Es muss unser gemeinsames Ziel sein, dass weder Mensch noch Natur ausgebeutet werden und die Ressourcen nicht privatisiert werden. Ich sehe es definitiv so, dass linke Politik Umweltpolitik und ebenso Verteilungspolitik ist. Was ist eine ökosoziale Steuerreform, wenn nicht Verteilungspolitik? Man wird nicht daran vorbeikommen, Wirtschaft anders zu denken und eine ökosoziale Steuerreform ist für mich ein wesentlicher Beitrag, der in die richtige Richtung geht.
Die Grünen schneiden in den Wiener Innenbezirken deutlich besser ab als in den Außenbezirken. In den klassischen Arbeiter_innenbezirken findet der Wahlkampf – zumindest der Statistik nach – hauptsächlich zwischen Rot und Blau statt, wobei die Freiheitlichen dort immer mehr Wähler_innen gewinnen. Wie werden die Wiener Grünen unter Ihrer Führung versuchen, in diesen Bezirken einen Unterschied zu machen? Plakatieren die Grünen dort überhaupt?
Mein Zugang ist der persönliche Kontakt und die direkte Auseinandersetzung vor Ort. Ich war gestern in der Nacht in Liesing bei einer Bürger_innenbeteiligung, bei der es darum ging, was sich die Leute dort wünschen: tausende neue Wohnungen, Infrastruktur und Wohnraum. Zwei Tage vorher war ich im 10. Bezirk, wo der gesamte Reumannplatz umgebaut wird. Da geht es um Lebensqualität und auch die Favoritner_innen haben sich vieles gewünscht: Begegnungszonen, Kinderspielbereiche, Parkbänke und Beschattung. In Simmering, vier Tage vorher, habe ich eine Schulstraße eröffnet, gemeinsam mit Schüler_innen, Lehrer_innen, Elternverein und Polizei. Weil es hier um die Sicherheit der Kinder geht. Ein Pilotprojekt, dass man nicht nur in der Früh die Straße sperrt, sondern auch am Nachmittag. In der Innenstadt wiederum herrscht durch das dicht verbaute Gebiet eine andere Problematik – die Hitze. Dort geht es um Verkehrsberuhigung und Rückbau sowie um die Schaffung von öffentlichem Raum für alle. In den Außenbezirken, das habe ich gestern in Liesing wieder erlebt, ist die Hitze natürlich auch ein Problem und dort haben sie ebenfalls ein Verkehrsproblem, erzählen mir die Leute. Sie sind auf das Auto angewiesen, weil es zu wenig öffentliche Verkehrsmittel gibt. Das verstehe ich. Hier zu investieren und Querverbindungen zu schaffen ist definitiv meine Aufgabe.
Um konkret nachzufragen: Das hat jetzt auf den öffentlichen Raum verwiesen. Uns interessiert mehr, wie es bei den Arbeiter_innen in Simmering privat ausschaut, Stichworte: Arbeitspolitik, Sozialpolitik, Mietpreispolitik. Das kümmert diese Menschen vielleicht mehr als Coole Straßen.
Ich habe jetzt zunächst von meinem Aufgabenbereich erzählt, ich bin Stadträtin für Verkehrsplanung, Klima und Bürger_innenbeteiligung. Wir müssen außerdem gar nicht nach Simmering schauen, um irgendwelche Klischees zu bedienen. Wir sitzen hier im ärmsten Bezirk Wiens, im 15., wo ich zuhause bin. Ich merke bei Hausbesuchen, dass sich die Frage stellt, ob man sich die Miete noch leisten kann, weil die Miete bis zu fünfzig Prozent des Einkommens verschlingt. Das ist eine Zukunftsfrage, eine Frage der Lebensqualität. Deswegen war es mir wichtig, dass wir als Grüne eine Änderung der Bauordnung vorangetrieben haben, das heißt, zukünftig wird so gebaut und gewidmet – dafür bin ich zuständig –, dass daraus zwei Drittel leistbarer Wohnraum entstehen, damit uns die Mieten nicht durch die Decke schießen. Wir bauen auch wieder Gemeindewohnungen. Wien wächst um 16.000 bis 20.000 Menschen jährlich.
Auf der anderen Seite geht es vor allem bei der Mindestsicherung, für die ich zuständig bin und für die wir in Wien lange verhandelt haben, darum, dass wir eben keine Politik auf dem Rücken der Ärmsten machen. Ich finde das absichtliche Produzieren von Kinderarmut einen der schäbigsten Vorgänge, den ich der türkisen Partei, die angeblich christlich-sozial ist, vorwerfe. Da stemmen wir uns in Wien mit aller Kraft dagegen. Die Grünen und die Roten fordern in diesem Wahlkampf außerdem einen Mindestlohn von 1700 Euro. Ich bin angetreten, um alles in meinem Aufgabenbereich unter den Deckmantel Klimaschutz und Zusammenhalt zu geben. Ich überprüfe alles unter diesen Kriterien und habe auch schon Projekte gestoppt. So definieren wir das Zusammenleben.
Kritisch möchte ich zurückfragen: Wer sind denn die Arbeiter_innen?
Die Lohnabhängigen, die Miete zahlen müssen, also mehr als zwei Drittel der Bevölkerung, deswegen die kritische Nachfrage: Warum nicht drei Drittel leistbarer Wohnraum?
Zukünftig geht es bei Flächenwidmungen darum, dass zwei Drittel leistbarer Wohnraum geschaffen werden, das heißt, es gibt quasi eine Obergrenze für die Miete, die verlangt werden darf. Das ist in der Bauordnung festgehalten. Darüber hinaus wird ein Leitbild für neu entstehende Stadtbauzentren erstellt, in welchen man nicht nur baut, sondern sich auch die gesamte Infrastruktur, die soziale Struktur und die Verkehrspolitik ansieht – damit eine Lebensqualität erreicht werden kann. Das halte ich für eine Erfolgsgeschichte. Bei der Änderung des Mietrechts ist der Bund seit jahren säumig.
Aber warum überlässt man ein Drittel dem oft spekulativen Immobilienmarkt?
Im Augenblick ist es so, dass die Grundstückspreise höher sind als der Baupreis. Wir müssen also so bauen, dass es eine Durchmischung gibt, dass es leistbaren Wohnraum gibt, der auch durch privaten Wohnungsbereich mitfinanziert wird. Das als Spekulation zu bezeichnen, ist gewagt. Das ist reale Politik. Ganz einfach.
Wie stehst du eigentlich zu Hunden?
Ich bin mit Hunden aufgewachsen, unser Hund war sehr wichtig für unsere Familie. Das ist einer der Gründe, warum ich in der Stadt keinen Hund haben will.
Muss man in Österreich als Spitzenpolitiker_in zurücktreten, wenn man sich negativ über Hunde äußert?
Das ist eine eigenartige Frage, ihr seid die Ersten, die mir diese Frage stellen. Ich würde mir mal überlegen, warum das so ist. [Lachen] Jetzt ernsthaft: Ich glaube, was sich dahinter verbirgt, ist das Thema Einsamkeit, ein Tabuthema in unserer Stadt. Ich merke es bei den Hausbesuchen, bei Gesprächen über Katzen und Hunde. Dahinter verbirgt sich auch, dass alte Menschen bei der enormen Hitze nicht mehr aus dem Haus gehen. Ein Einsamkeitsproblem. Dieses Thema sollte verstärkt in den Fokus der Politik genommen werden.
Das war eine sehr ernste Antwort auf eine unernst gemeinte Frage. Aber zu Gemeinsamkeit und Zusammenhalt: Du bist noch bis 2021 Schriftführerin des Vereins Freie Österreichische Jugend – Bewegung für Sozialismus, die sich als marxistisch-leninistische Jugendorganisation versteht. In einem ZIB-Interview vom 23. Juni hast du gesagt, dass du „der Wirtschaft die Hand reichen“ möchtest. Müsste man dieser eigentlich nicht eher die Hände binden oder wie geht das zusammen?
Der Verein FÖJ war nach dem Krieg KPÖ-nahe und ist nach dem Prager Frühling 1968 aus dieser ausgetreten. Das sind in erster Linie Antifaschist_innen und Widerstandskämpfer_innen, die in dieser Sache gemeinsame Arbeit machen und ja, ich werde auch über 2021 hinaus öffentlich Teil dieses Vereins sein. Zum Thema Wirtschaft: Ich habe einen umfassenden Begriff von dieser. Wirtschaft ist nicht zwangsläufig privatwirtschaftlich-kapitalistisch wie Google oder Amazon. Wirtschaft meint auch den staatlichen, den öffentlichen und den Non-Profit-Sektor. Der größte Arbeitgeber in Wien ist der Krankenanstaltenverbund mit über 30.000 Mitarbeiter_innen. Auch das ist Wirtschaft. Insofern würde ich natürlich Unternehmen die Hand reichen, die ökologisch, nachhaltig, sozial und solidarisch denken und handeln.
Auf die Frage, ob der Kapitalismus tötet, hast du im selben Interview geantwortet, dass die Klimakrise tötet. Nun ließe sich argumentieren, dass sich diese Krise nur unter den Vorzeichen der globalen Produktionsweise, dem Kapitalismus, erklären lässt. Die von dieser Wirtschaftsordnung benachteiligten Menschen tragen die Folgen der Klimakrise, also auch den Tod, als erste. Wie siehst du dieses Spannungsfeld?
In der ZIB in zwei Sätzen so eine Diskussion zu führen ist kein Lercherl. [Wienerisch für „geringer Aufwand“, Anm. d. Red.] Natürlich ist es so, dass wenn ich an Pakistan oder Bangladesch denke, an die Näher_innen, an die Bekleidungsindustrie – da geht es um Ausbeutung. Das sind die fatalen Auswirkungen des Kapitalismus. Überhaupt keine Frage.
Wir können auch intensiv über die Waldbrände im Amazonasgebiet diskutieren. Nur zur Erinnerung: Der Spruch „Kapitalismus tötet“ kommt vom Papst. [Lachen] Auch an der Umweltverschmutzung in den realsozialistischen Ländern leiden die Leute noch heute. Es ist also nicht nur die Frage nach dem Wirtschaftssystem, sondern auch nach den demokratischen Entwicklungen. Ist es überhaupt möglich, Widerstand gegen Umweltzerstörung zu leisten?
Die Ausbeutung der Natur durch den Menschen, das Entgegenhalten zur Privatisierung von Rohstoffen, die Rolle des Staates über die Mindestsicherung bis hin zur jetzt absurderweise verankerten Schuldenbremse in der Verfassung, die jegliche Investitionen verunmöglichen – sorgen wir hinsichtlich dieser Fragen für einen Diskurs, in dem es möglich ist, Wirtschaften anders zu denken. Da liegt vielleicht der Unterschied zwischen euch und mir. Ich bin überzeugt, dass das in breiten Bündnissen möglich ist. Ich habe nichts davon, auf einer einsamen Insel in Schönheit zu sterben.
Warum fällt es dir und anderen bei den Grünen so erkennbar schwer, das Wort „Kapitalismus“ überhaupt zu verwenden? Glauben Sie an eine grüne Versöhnung mit dem Kapitalismus? Ähnlich ist es mit dem Begriff „Antifaschismus“ …
Es geht nicht darum, wie oft man in einem Interview das Wort „Antifaschismus“ verwendet. Es geht darum, auf der Straße zu stehen, wenn es wichtig ist. Aufzustehen, wenn rechtsextreme Regierungen den Diskurs völlig verschieben. Ich bin davon überzeugt, dass der antifaschistische Grundkonsens tagtäglich aufs Neue erkämpft werden muss. Das halte ich für elementar wichtig.
Warum ist es aber so, dass dieser Grundkonsens in der österreichischen Politik nicht klar ausgesprochen wird? Es ist ja eigentlich kein Geheimnis, dass die Grünen sich als links und antifaschistisch verstehen. Provokant gefragt: Wird das von der Marketingabteilung als Hindernis für die Stimmenmaximierung bewertet, weil diese Begriffe mit Linksaußen verknüpft werden?
Das sind jetzt mehrere Ebenen. Die eine ist: Wir Grünen kämpfen jetzt darum, wieder im Nationalrat vertreten zu sein. Wir haben einen schmerzhaften Prozess hinter uns, einen der Erneuerung und der Öffnung. Dass wir von unseren Wurzeln her eine ökologische Partei sind, dürfte sich außerdem herumgesprochen haben. Natürlich können wir jetzt darüber diskutieren, was bürgerlich ist und was links. Das ist eine spannende Diskussion im Übrigen.
Die andere Ebene ist, dass man im Wahlkampf auf zwei, drei Themenbereiche zuspitzt. Das kann man kritisieren, muss man aber nicht. Auch da ist wieder die Frage, ob man einsam in Schönheit sterben möchte. Wir haben uns in diesem Wahlkampf für die Themen Klimaschutz, Gerechtigkeit, Kinderarmut, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit entschieden. Jetzt könnte man sagen: Da fehlen aber Bereiche wie Bildung, Arbeitszeitverkürzungen – eh! Aber im Wahlkampf wird eben zugespitzt.
Die dritte Ebene ist: Wir sind die Grünen. Wir sind nicht die Speerspitze der Revolution. Aber das Gestalten einer gemeinsamen Zukunft, also die Klimaschutzfrage mit der Gerechtigkeitsfrage zu verbinden, dafür stehe ich ein. Wir haben heuer so viel Hitzetote, wir hatten 45 Tage über dreißig Grad, in Wien wird es laut Studien bis 2050 um 7,6 Grad wärmer. Sorry Leute, ich stehe dazu, dass der Klimaschutz eine Gerechtigkeitsfrage ist und im Grunde linke Politik. Jetzt können wir über linke Politik reden und da werdet ihr an mir auch berechtigte Kritik üben. Ich bin nämlich nicht besser als meine Wähler_innen und lebe in einem permanenten Widerspruch. Ich muss leistbare Wohnungen bauen und widmen und gleichzeitig Grünraum schaffen. Ich habe dabei den Anspruch, diese Widersprüche offen zu diskutieren.
In Sachen Glaubwürdigkeit: Wenn also die Grüne Partei eine linke, oppositionelle und integre Partei sein soll und ein Bollwerk gegen rechts …
[Lacht] … und pragmatisch und realpolitisch und revolutionär und …… dann fragen wir uns, wie verträgt sich das mit den schwarz-grünen Koalitionen auf Länder- und Gemeindeebene, oder wie in Graz sogar in der Uni-Politik? Wie sieht man das bei den als eher links bekannten Wiener Grünen?
Natürlich ist das Pragmatismus, aber das finde ich völlig in Ordnung. Ich frage jetzt umgekehrt: Wir hatten jetzt anderthalb Jahre eine rechts-rechtsextreme Regierung, die nicht nur von Skandalen gebeutelt wurde, sondern drauf und dran war, das Sozial- und Versicherungssystem zu zerstören, sich abhängig gemacht hat von Spender_innen und Konzernen, der Zwölfstundentag – da fällt mir vieles ein, das war ein Übel für unser Land. Sie haben auch den politischen Diskurs verschoben und es wird eine Zeit lang dauern, diesen wieder zu versachlichen. Ihr bringt dafür einen Beitrag als kritisches Medium, meine Nachbarin bringt einen Beitrag, indem sie Socken strickt für Flüchtlingskinder. Ich will nicht bewerten, was besser ist, aber wenn ich ein Beispiel bringen darf: Der schwarz-grünen Landesregierung in Vorarlberg ist die Versorgung der Asylwerber_innen besser gelungen als in Wien. Hier müssen wir gut überlegen, was es bedeutet, wenn dieses Armutsförderungsgesetz Neu kommt auf Bundesebene. Für die subsidiär anerkannten Flüchtlinge heißt es, dass 3000 Kinder von ihren Familien abgeschnitten werden.
Um bei der Frage nach der Koalition mit der ÖVP zu bleiben, es stimmt für Vorarlberg …
Dort ist die ÖVP noch eine christlich-soziale ÖVP, nicht die türkise Partei.
… aber in Salzburg ist die Koalition der Grünen mit der ÖVP katastrophal gescheitert, die Grünen haben bei der Folgewahl elf Prozent verloren und die ÖVP neun Prozent gewonnen. Was würdest du denn den Kolleg_innen auf Bundesebene hinsichtlich einer Koalition mit Türkis raten?
Das Salzburg-Beispiel kommentiere ich nicht, weil wir überall massiv verloren haben. Wir sind aus dem Nationalrat geflogen, wir haben Fehler gemacht und lernen dazu. Wir haben einen Öffnungsprozess hinter uns, einen Erneuerungsprozess und ich werde meiner Partei nichts ausrichten, denn ich bin Teil der Partei. Wir haben gemeinsam etwas geschaffen und wir merken auch bei der Grünen Jugend, dass es da wieder einen kritischen Diskurs gibt, an dem sich viele Jugendliche beteiligen. Es herrscht gerade grundsätzlich eine gute Stimmung. Und ich habe immer gesagt, ernsthafte Sondierungsgespräche sind zu führen, das ist eine Frage der Vernunft. Dazu stehe ich. Dass ich skeptisch bin bei einer türkis-grünen Koalition, ist unbestritten. Weil ich mir schwer vorstellen kann, inwiefern Klimaschutz, Gerechtigkeit und Rechtsstaatlichkeit damit vereinbar sind.
Du hast vorhin von einer rechts-rechtsextremen Regierung gesprochen und hinsichtlich einer Koalition mit Teilen dieser bist du jetzt „skeptisch“. Bist du nun dafür oder dagegen oder skeptisch?
Das ist jetzt aus dem Zusammenhang gerissen. Die ÖVP-FPÖ Regierung ist eine rechts-rechtsextreme Regierung. Die Frage nach möglichen Verhandlungen zwischen Türkis und Grün habe ich vorhin beantwortet: Ernsthafte Sondierungsgespräche sind eine Frage der Vernunft. Dazu stehe ich. Ob es eine realistische Möglichkeit gibt, dass es zu einer solchen Regierung kommt – da bin ich skeptisch. Wir werden sehen. Jetzt ist das wichtigste, dass wir darum kämpfen wieder ins Parlament zu kommen.
Du hast den kritischen Diskurs der Grünen Jugend erwähnt. Wie siehst du die Tatsache, dass die vorige Grüne Jugend geschlossen zu den Kommunist_innen übergelaufen ist?
Wir haben Fehler gemacht, wir lernen daraus und wir haben jetzt intensiv an einem Neustart und einer Öffnung der Partei gearbeitet. Wir spüren seit der EU-Wahl eine Aufbruchsstimmung.
Aber welche Fehler habt ihr denn gemacht?
Vielfältige. Mich interessiert aber das hier und jetzt, wie wir weitermachen, nicht die permanent langweilige Vergangenheitsbewältigung. Das entscheidende ist, dass wir dazugelernt haben. Wir müssen weniger moralisierend, nicht mit dem erhobenen Zeigefinger Politik machen, sondern eine offene Auseinandersetzung führen. Wir haben vielfältige Kandidat_innen aus dem Gewerkschaftsbereich, NGOs, aus dem linken und dem bürgerlichen Bereich.
Okay, aber was war jetzt der Fehler?
Den Leuten vorschreiben zu wollen, was sie zu tun haben. Wir haben wirklich daraus gelernt, dass wir mit dieser Spur Überheblichkeit nichts in der Politik erreichen. Dass wir inhaltlich seit Jahren vor einer Klimakatastrophe gewarnt haben, ist richtig. Da haben dann einige Menschen gesagt, das sei zu überheblich, zu dramatisch, wir würden uns zu wenig um die Alltagssorgen der Menschen kümmern. Aber darauf hinzuweisen war richtig. Die Art und Weise wie wir es getan haben, daraus haben wir gelernt, da war vielleicht etwas Arroganz dabei. Wir müssen aber den Diskurs mit und nicht über die Leute führen.
Zum Abschluss ein Gedankenexperiment: Gesetzt den Fall, du gewinnst 2020 die Wahl, übernimmst das historisch rote Wien und wirst die erste Bürgermeisterin der Stadt. Würdest du den Job um ein Jahr länger machen wollen als Michi Häupl, also 24,5 Jahre?
Ich habe immer gesagt, ich werde den Job so lange machen, wie ich etwas beitragen kann, damit es den Menschen besser geht.
Also auch 25 Jahre?
Es gibt auch ein Leben nach der Politik. [Lachen]
Stichwort Häupl. Wie stehst du zu Spritzwein?
Häupl haben wir gestern zum Ehrenbürger der Stadt Wien ernannt, er ist schon ein Phänomen. Ich für meinen Teil bin Biertrinkerin.
Während unserer letzten Frage kommt Birgit Hebeins nächster Termin, ein tätowierter Fußballfan Mitte Vierzig, der uns zum Derby der Vienna-FC-Frauenmannschaft einlädt. Wir danken – und bezahlen unseren Kaffee selbst. MALMOE bleibt unbestechlich.