MALMOE

Der letzte Stream

Aus der Reihe: Der große Minister. Hykels wundersame Visionen und Taten

„Hallo? Hallo?“ Hykel zog die Bildschirmkamera wieder nach oben. „Dieses verdammte Scheißding. Ständig sackt sie nach unten. Bin ich gut im Bild? Passt’s?“, fragte Hykel, richtete die Kamera akribisch aus und sich in seinen Bürostuhl zurecht. Er starrte auf seinen flimmernden Monitor.

„Was ist los, verdammt, wann bin ich auf Sendung?“

„Der Stream ist bald so weit. Noch einen Moment. Ich spiel gerade noch ein kurzes Video von mir ein!“, rief ihm der Ex-Vizekanzler zu, der im hinteren Teil des Büros ebenfalls vor einem Monitor saß.

„Von dir? – Mein lieber Strunz, bald reicht es mir! Warum schon wieder du? Dass ich auf meine große Abschiedsrede verzichtet habe, weil der Hofer sich unbedingt seinem Wahlvolk zeigen wollte, ist eine Sache, aber dass du dich jetzt auch noch vor meine endgültige Abrechnung drängen musst, ist eine Frechheit.“

„Aber mein lieber Hykel, was heißt hier vordrängen? Ich bin dein Vorprogramm!“ Der Strunz blickte kurz von seinem Bildschirm auf und setzte in beruhigendem Tonfall fort: „Du bist immer noch der Star. Denn das Volk will dich, den großen Minister, sehen.“

„Das will ich meinen. Wie viele folgen eigentlich schon dem Stream? Eine Million?“

„Eine Million?“ Hustend erhob sich Strunz und ging auf den großen Ex-Minister zu, strich kurz durch dessen Haar und zwirbelte an ein paar seiner grauen Strähnen.

„Nicht zupfen! Lass das! Sag mir lieber, wie viel“, fauchte der große Ex-Minister.

Strunz sprach leise: „Also nicht direkt eine Million – bis jetzt. Aber vierstellig, also über tausend sind wir auf jeden Fall.“

„Über tausend? Soll das heißen, dass sich kein Arsch mehr für den großen Minister interessiert?“

Strunz setzte sich, gab dem Bürostuhl einen Stoß, dass sich dieser zu drehen begann, und während Hykels Webcam wiederum traurig die Linse senkte, wandte er sich langsam zu ihm. Schließlich ergriff Strunz beide Armlehnen, kniete sich vor Hykel, blickte ihm tief in die Augen und sagte: „Mein kleiner Schweine-Reimer. Mein liebster Hykel. Ich weiß, dass dich nicht jeder mit Liebe überschüttet und dir nicht die Beachtung geschenkt wird, die du verdienst. Aber alle, sogar die größten Idioten, sind voller Bewunderung für dich. Denn du hast Charisma. Du bist ein Mann der scharfen Worte und harten Taten. Und jetzt mach nicht so ein Gesicht, sondern fletsch die Zähne und zeig ihnen dein strengstes Lächeln. Dass die alten Mütter einen Schreck kriegen. Wir stellen deine Rede auf Youtube, verlinken sie mit meiner Facebookseite und du wirst hunderttausende Klicks bekommen. Ich schwör’s dir.“

Der große Ex-Minister, obwohl kaum empfänglich für schmeichelnde Worte, musste dennoch grinsen, zog seinen Krawattenknoten enger und ließ seinen Gesichtsausdruck langsam abkühlen, bis ein eisiges Lächeln sein Gesicht zierte. „Aye, aye, Käpt’n Strunz! Man muss den Menschen und vor allem diesen Hörbigers und Hortens wieder mal klarmachen, woher sie kommen und wohin ihre Zuwendungen gehören. Und zwar zu uns. Dieser schmierigen Schwiegersöhnchenpartie werden wir es zeigen“, rief der große Ex-Minister.

Dann hielt er kurz inne, stieß sich mit dem Sessel ab und drehte sich in den offenen Raum. „Weißt du, wir beide, wir sind ein unschlagbares Team. Ich versteh immer noch nicht, wie du dich mit diesem Tölpel auf diese Geschichte einlassen konntest. Ibiza … Ich hab’s dir doch immer schon gesagt – Berge statt Balearen! Andernorts fehlt uns die Übersicht. Und jetzt, jetzt hat unsere Partei einen Führer, der sogar gegen diese grüne Raucherlunge schlappmacht.“

„Mein lieber Hykel, ich weiß. Momentan schaut’s nicht gut aus. Da braucht’s einen langen Atem, ganz wie Barbarossa in seiner Höhle …“

„Papperlapapp, keine deutschnationalen Sentimentalitäten und schon gar nicht so ein resignativer Ton! Den Leuten muss man die Augen öffnen und dann sehen sie, dass wir vor dieser Bagage an Erbschleichern nicht in die Knie gehen!“

Strunz’ und Hykels Blicke trafen sich und dann begann Strunz, ganz behutsam, seinen Kniefall zu beenden. Nun stand er wieder aufrecht und fasste sich. „Mein lieber Hykel, da haben Sie natürlich recht. Vielleicht ist’s auch nur das Flair von unserem …“, und jetzt formte Strunz schnell feixend zwei Gänsefüßchen, „… Büro.“ Beide überblickten die zwei Schreibtische in dem schmalen, düsteren Kabinett, dessen Trostlosigkeit von dem kalten Computerlicht noch unterstrichen wurde.

„Das war früher schon fescher“, sagte Strunz und ging gedankenverloren zu seinem Schreibtisch.

„Kopf hoch. Sobald mein Stream viral geht, gibt’s kein Halten. Die schier unglaubliche Geschwindigkeit unseres Lauffeuers … Moment, was ist denn hier los …“

„Endlich geuploaded!“, kommentierte Strunz mondän-lässig das aufgesprungene Dialogfenster und erstaunte Hykel mit einer souveränen Tastenkombination. „Mein neuestes Video ist gleich on air und dann kommt Ihr Stream!“ Und tatsächlich, zu einem der Smash-Hits des Ex-Vize sah man im Browserfenster Strunz als Zahntechniker, DJ, Rapper, Revolutionär, in volkstümlicher Tracht Gekleideten, ölverschmierten Raffineriearbeiter vor wechselnden Hintergründen posieren.

Hykel pfiff leise durch die Zähne. „Das ist ja raffiniert, so mit Vielfalt und ganz nah bei den einfachen Leuten.“

„Nicht nur das, im Netz hab ich auch noch eine weitere Idee gefunden“, sagte Strunz und jetzt sah man ihn in einem Poloshirt mit gewinnendem Lächeln, sogar die Haare hatte er sich platinblond gefärbt.

„Potzblitz, mein lieber Strunz, Startup-CEO. Darauf hätte ich auch kommen können. Das bringt jetzt mein Konzept doch ein bisschen durcheinander …“, sagte Hykel und polierte sichtlich aufgeregt zuerst seine Brille, dann die Frontlinse und zum Schluss die Mikrophonbuchse des Laptops, auf der noch immer hässliche Klebestreifenreste pickten. Strunz verließ den Bereich, der von der Kamera erfasst wurde, öffnete sogleich prophylaktisch mehrere Energydrink-Dosen und zündete eine Zigarette an. Kein Geräusch sollte den nun einsetzenden Stream des großen Ex-Ministers stören.

Hykel räusperte sich und steckte das Mikrophon an. „Werte Damen und Herren. Ich bin angetreten … Pardon. Ich trete als Minister an und werde auch in Zukunft als Minister angetreten sein, sei der Gegenwind aus den moralischen Niederungen auch noch so stark.“

Hykel wollte sich durch einen Blick auf Strunz vergewissern, dass seine Worte ankamen. Doch sein bewährter Seismograph der Volksseele blickte verständnislos und steckte sich eine weitere Zigarette an der noch brennenden an.

„Ich möchte meinem werten Publikum frank und frei mein Verständnis als Minister näherbringen. Hegel hat schon erkannt, dass in dieser objektiven …“, und hier vergaß Hykel vor Nervosität seine lustige Gänsefüßchenbewegung, die er so lange vor dem Spiegel geprobt hatte, „… Welt nur die Ideen Bestand haben. Und sie bleiben bestehen, weil sie wahr sind und doch in Relation zu anderen Ideen stehen. So ist es auch mit Heimat, ihrer Liebe und Sicherheit.“

Wiederum blickte Hykel auf Strunz, welcher hektisch mit beiden Händen gestikulierte. Hykel zog kurz die Stirn kraus, dachte dann aber an die laufende Übertragung und fasste neuen Mut. „Als großer Minister werde ich auch stets als Verknüpfungs- und Kristallisationspunkt dieser zeitlosen Ideen bestehen.“

„Mein lieber Hykel, wir haben keinen Ton! Goldi hat mich gerade angeschrieben!“, unterbrach ihn Strunz aufgeregt. Hykel schnellte nach vorne und erkannte sofort sein Malheur: Neben der belegten Lautsprecherbuchse klaffte die Öffnung des Mikrophonanschlusses. Währenddessen hatte sich die Kamera gesenkt und verharrte auf der letzten Zeile der Notizen, neben die Hykel zuvor hastig „KEINE QUELLE“ gekritzelt hatte: „So entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand ich immer war: Heimat.“