MALMOE

Den Kapitalismus anpatzen

Vor über 100 Jahren schrieb Upton Sinclair seinen sozialkritischen Roman Der Dschungel. So schlicht wie er erzählt, so radikal predigt er darin vom Ende des Elends

Der ebenso gutherzige wie einfach gestrickte Jurgis Rudkas macht sich mit seiner Familie von Litauen aus über den großen Teich. In den USA suchen sie ihr Glück, ein Leben jenseits von Sorgen und Kummer. Vor Ort jedoch, um Arbeit und Auskommen bemüht, gerät die Familie in die erbarmungslosen Mühlen der Chicagoer Schlachthöfe. Hier wird zugunsten der Profitmaximierung die Arbeitskraft aus dem Menschen so sehr herausgepresst, bis kaum noch Menschliches von ihm übrigbleibt. Immer wenn man meint, tiefer ginge es nicht, geschieht das nächste Übel. Tapfer und rechtschaffen bis ins Mark, wird Jurgis von der Ausbeutungsmaschinerie schließlich dennoch in Alkoholismus, Wahnsinn und organisierte Kriminalität getrieben. Als man längst nicht mehr an ein Happy End glauben mag, schleppt sich das gebrannte Kind an einer sozialistischen Versammlung vorbei. Die revolutionäre Predigt wird ihm zum Erweckungserlebnis, die Zukunft gewinnt wieder einen Sinn. Nicht mehr lange, dann wird die Menschheit auf den Trümmern des Kapitalismus triumphieren.

So weit, so einfältig. Das Überraschende ist: Sinclairs Roman liest sich sehr erfrischend. Auf Figurenentwicklung, Handlungsbogen und stilistische Finessen aus dem Abendkurs für „Kreatives Schreiben“ gibt Sinclair einen feuchten Kehricht. Jurgis ist Abziehbild eines Typus, wie es ihn tausendfach gegeben haben muss. Seine Gedanken- und Gefühlswelt bleibt uns weitgehend fremd. Ebenso seine Nächsten. Degradiert vom Leben stellen sie kaum mehr dar als Schaufensterpuppen der proletarischen Klasse. Die Produktionsstätten der amerikanischen Fleischindustrie hingegen erscheinen umso wahrhaftiger. Es ist monströs, es stinkt, es dröhnt. Es ist gleichzeitig zu kalt und zu heiß, kurzum: Es ist hoffnungslos. Die Misere hält die Menschen im Schwitzkasten und mehr als einmal stellt sich die Frage, ob das Leben für sich es wert ist, gelebt zu werden, wenn es eben so ist, wie hier geschildert.

Wo sich zeitgenössische Literatur oft anschickt, ausgeklügelten Plots und politische Gefühlslagen zum Zwecke anspruchsvoller Unterhaltung zusammenzuführen, stellt Sinclair literarische Spitzfindigkeiten ebenso hintenan wie debattengeschulte Meinungsbekundungen. Die Sackgasse, in welcher Realität wie Romanhandlung gefangen scheinen, offenbart auch in der Fiktion keine Perspektive auf Entkommen. Diese liegt allein in der Verwirklichung der sozialistischen Idee, der Befreiung der ArbeiterInnen aus ihrem Joch. Als einer der „Muckracker“ (dt. Schmutzaufwühler) geschimpften Journalisten und Schriftsteller, die den gesellschaftlichen Missständen des frühindustriellen Amerikas nachspürten, arbeitete er wochenlang auf besagten Schlachthöfen, um über deren hässliches Innenleben aufzuklären. In Folge der Veröffentlichung des Romans sah sich der Kongress gezwungen, ein erstes Hygiene-Gesetz für die fleischverarbeitende Industrie zu erlassen. Sinclair konnte darüber nur müde lächeln: „Ich zielte mit meinem Roman auf das Herz und das Gewissen der Amerikaner, aber traf nur ihren Magen.“ Schließlich ergriff der bekennende Marxist zuallererst nicht Partei für das ökologisch-korrekt produzierte Steak, sondern für die Emanzipation der ausgebeuteten Klassen. Den Kapitalismus anpatzen, würde man heute wohl dazu sagen.

Upton Sinclair (2014): Der Dschungel, Unionsverlag, Zürich. Selbstverständlich erhältlich in der Buchhandlung im Stuwerviertel, Stuwerstraße 42, 1020 Wien.