Das Ibiza-Video zeigt keinen Widerspruch zu schwarz-blauer Regierungspolitik. Ein Kommentar.
Kaum mehr als eine Woche nach der Veröffentlichung des Ibiza-Videos und dem Zerfall der schwarz-blauen Koalition darf sich (Gerade-noch-)Bundeskanzler Kurz bei der EU-Wahl als großer Wahlsieger abfeiern lassen. Selbst die FPÖ hat nach dem peinlichen Abgang von Heinz-Christian Strache und Johann Gudenus kaum verloren. Und die haben sich an gleich zwei österreichischen Heiligtümern vergriffen, der Kronen Zeitung UND dem heimischen Trinkwasser. Dem eben erst zurückgetretenen Strache gaben bei der EU-Wahl mehr als 44.000 Menschen eine Vorzugsstimme, sodass ihm tatsächlich ein Mandat im EU-Parlament zusteht.
„Sie werden sich noch erinnern“, beginnt der Moderator in der ZIB-Sondersendung zum Misstrauensantrag gegen die Regierung Kurz, einen Tag nach der EU-Wahl, dass wenig mehr als eine Woche zuvor eine „politische Bombe“ in der österreichischen Innenpolitik explodiert sei. Angesichts des Wahlergebnisses darf man sich fragen, wie es um das Kurzzeitgedächtnis der Wahlberechtigten und die Nachhaltigkeit politischer „Bomben“ und „Erdbeben“ in Österreich bestellt ist. Für 74 % der Österreicher_innen hatte die Regierungskrise bei der EU-Wahl jedenfalls keine persönlichen Auswirkungen, vermeldet Ö1.
Kurz in der Krise
„Genug ist genug“, sagt Kurz – doch ist sein Statement voller Widersprüche. 18 Monate zur Schau getragener Einigkeit zwischen Schwarz und Blau spiegeln sich darin wider, das gemeinsame Wording sitzt. Ebenso wie Strache nennt er sofort den Namen Silberstein und zieht – wieder mal – bei der Verbreitung von Verschwörungstheorien und dem Spiel mit antisemitischen Codes mit, „die Juden“ und „die Sozis“ seien somit irgendwie an der Regierungskrise schuld. Glaubt man der FPÖ, wäre Kurz, auch angesichts der völligen Entblößung des Politikverständnisses der FPÖ-Spitzen und ihrer Korruptionsanfälligkeit, zunächst bereit gewesen, die Koalition fortzuführen, hätte sich die FPÖ neben Strache als Vizekanzler auch von Kickl als Innenminister getrennt. Im selben Moment, als er der FPÖ ihre Regierungsfähigkeit abspricht, lobt Kurz die „inhaltliche Zusammenarbeit“ in höchsten Tönen – stößt er sich bei der Politik der FPÖ doch generell weniger am Inhalt als an der Form.
Kurz, der die FPÖ in die Regierung geholt und Einzelfall um Einzelfall die „rote Linie“ weiter ins Unerträgliche verschoben hat, sagt, er habe in dieser Zeit vieles aushalten und in Kauf nehmen müssen. Er habe keine andere Möglichkeit gehabt, als mit der FPÖ zu koalieren (auch daran sei die SPÖ schuld) und sich gewissermaßen aufgeopfert. Er erklärt das Scheitern der schwarz-blauen Regierung und appelliert mit dem Aufruf, ihm bei den nächsten Wahlen eine absolute Mehrheit zu beschaffen, gleichzeitig an die autoritären Sehnsüchte seines Publikums, denn es brauche „einen klaren Auftrag an eine Person, das Land zu führen“.
Mehrere Pressekonferenzen hält Kurz in den ersten Tagen der Regierungskrise ab, in denen er keine Fragen von Journalist_innen zulässt – er braucht sie nur als Beiwerk seiner Selbstinszenierung. Diese funktioniert, solange für ihn alles planbar bleibt, man ihn nicht zu spontanen Reaktionen herausfordert oder in konfrontative Situationen bringt. Unverständlich ist, warum sich die Mainstream-Medien weiterhin so bereitwillig instrumentieren lassen und von Kurz als „genialem Strategen“ sprechen.
Alle reden von Stabilität
Das Land braucht jetzt Stabilität, heißt es von allen Seiten. Also weiter wie bisher? Ist es nicht angesichts eines Skandals, in dem es fundamental um das Politikverständnis und die Korruptionsanfälligkeit einer Regierungspartei geht, gerade angebracht, die Verhältnisse eben nicht „stabil“ zu halten? Das Ibiza-Video wirft nicht zuletzt auch viele Fragen an die ÖVP auf. Kurz und die ÖVP antworten auf Fragen, woher das Geld für den Nationalratswahlkampf 2017 gekommen ist oder wie die erlaubte Grenze der Ausgaben um 6 Millionen überzogen werden konnte, nur ausweichend. Kleines Detail am Rande: René Benko, der, so sagt Strache im Video, „die ÖVP und uns zahlt“, hat sich mittlerweile tatsächlich groß ins Mediengeschäft eingekauft und hält Anteile von etwa 25 % von Krone und Kurier. Benko dementiert, an die Parteien gespendet zu haben. Dass er zum näheren Umfeld von Kurz gehört (er „berate“ ihn in Wirtschaftsfragen) und dieser bei der Übernahme des Kika-Leiner-Konzerns im Sinne Benkos interveniert hat, ist jedoch kein Geheimnis.
Die NEOS stimmten als einzige Oppositionspartei gegen den Misstrauensantrag. Während sie sich darauf konzentrieren, mehr Transparenz bei den Parteifinanzen einzufordern, setzen sie sich gemeinsam mit der ÖVP für eine Senkung der Parteienförderung ein. Die beiden Parteien verbindet unter anderem, dass sie besonders von privaten Großspenden profitieren und in geringerem Maß von der Parteienförderung abhängig sind. Auf ein „mehr privat, weniger Staat“ und, wie es Kurz gerne formuliert, das „Sparen im System“, können sich NEOS und ÖVP gut verständigen. Die NEOS warnen auch davor, dass nach dem Bruch der schwarz-blauen Koalition Dinge beschlossen werden, die den Staatshaushalt stark belasten. Vor zwei Jahren, nachdem Sebastian Kurz gerade die letzte Regierung gesprengt hatte, wurde im Nationalrat beschlossen, das Partner_inneneinkommen künftig nicht mehr auf die Notstandshilfe anzurechnen – eine wichtige Maßnahme gegen die Armut und für die finanzielle Unabhängigkeit von Frauen konnte so umgesetzt werden. Die NEOS hatten gemeinsam mit der ÖVP dagegen gestimmt. Auch in Sachen Zusammenlegung von Mindestsicherung und Notstandshilfe und der zeitlichen Begrenzung des Notstandshilfebezugs (euphemistisch als „Leistungsanreiz“ bezeichnet) sind sie mit der ÖVP auf Linie.
Imagesorgen
„So ist Österreich nicht“, sagte Van der Bellen in seiner ersten Reaktion auf das Ibiza-Video. Wer nicht zuallererst um Imagekorrektur und die Sorge um den Wirtschafts- und Tourismus-Standort Österreich bemüht ist, kann keinen so klaren Widerspruch zwischen den Offenbarungen des Ibiza-Videos und schwarz-blauer Regierungspolitik erkennen – etwa wenn es um Steuergeschenke an Vermögende, die Umverteilung von unten nach oben und die versuchte Einflussnahme auf Medien geht. Während die Gerichtsprozesse zur Aufarbeitung der Korruptionsfälle von Schwarz-Blau I noch immer nicht abgeschlossen sind und die Neuauflage von Schwarz-Blau gerade am zumindest dringenden Korruptionsverdacht gescheitert ist, muss hinterfragt werden, welches Verständnis von Politik in Österreich zunehmend an Normalität gewonnen hat, was in Österreich alles geht.
Auch die treuen FPÖ-Wähler_innen sind, trotz Patriotismus-Reflexes, anderer Meinung als Van der Bellen. Gut, es mag FPÖ-Fans geben, die bei all den Verschwörungstheorien an der Echtheit des Videos zweifeln, obwohl diese von Strache und Gudenus nie bestritten wurde. Der Großteil von ihnen akzeptiert offensichtlich persönliche Bereicherung, Einflussnahme auf Medien und den Ausverkauf an ausländische Investor_innen als normale Vorgänge. Das sei „no na, part of the game“, hatte der für Bestechlichkeit strafrechtlich verurteilte Kärntner Ex-FPÖ-Chef Uwe Scheuch tief blicken lassen. Zumindest im Privaten dürfe wohl darüber nachgedacht werden. Ein Land mit hoher Toleranz für Einzelfälle, Ausrutscher und b’soffene G’schichten eben.
Mit dem Zerfall der schwarz-blauen Koalition konnte Schlimmeres fürs Erste abgewendet werden. Dass die ÖVP zum ersten Mal seit 1986 nicht „stabil“ in der Regierung ist, ist ein Anfang – ein wirklicher Bruch mit schwarz-blauer Politik steht jedoch noch aus.