MALMOE

Schwule Befreiung

Patrick Henze rekonstruiert die Emanzipationsbestrebungen der westdeutschen Schwulenbewegung

Zu Beginn der 1970er Jahre gründeten sich in vielen Städten der Bundesrepublik schwule Aktionsgruppen, die eine umfassende gesellschaftliche Veränderung anstrebten. Der Geschichte dieser Gruppen mit Fokus auf der Homosexuelle(n) Aktion Westberlin (HAW), deren Vorstellungen von Emanzipation sowie deren Verwirklichungsstrategien nähert sich Patrick Henze in seinem 2019 im Querverlag erschienen Buch Schwule Emanzipation und ihre Konflikte via Archivmaterial und Interviews mit damals Beteiligten.

Der erste Teil der Arbeit beinhaltet, dem Format einer Dissertationsschrift geschuldet, eine theoretische Rahmung und stellt die Struktur des Forschungsvorhabens vor. Auf Basis von gesellschaftstheoretischen Prämissen der Queertheory, der Gender Studies sowie psychoanalytischen Konzepten arbeitet Henze heraus, inwiefern die Gegenwart und das Sprechen über die Vergangenheit miteinander verknüpft sind. Den eigentlichen Kern des Werks stellt jedoch die wertvolle historisch-biographische Rekonstruktion der kollektiven und subjektiven Geschichte der Schwulenbewegung dar.

Die Herausbildung zahlreicher schwulenpolitischer Aktionsgruppen ereignete sich vor dem Hintergrund der Student_innenbewegung und der im Jahre 1969 stattgefundenen Liberalisierung des Paragraphen 175, der sexuelle Kontakte zwischen Männern kriminalisierte. Eingebettet war dies in ein Spannungsfeld von strafrechtlicher und sozialer Liberalisierung sowie einer parallel erfolgten, sich verschärfenden Diskriminierung durch eine erhöhte Sichtbarkeit.

Eine neue Bewegung entsteht

Ein entscheidender Einfluss war die Veröffentlichung von Rosa von Praunheims Film Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt im Jahre 1971. Im Zuge der vielen öffentlichen Vorführungen des Films und der daran anschließenden Diskussionen gründeten sich viele Gruppen. Dieser provokative Film zielte nicht darauf ab von der Restgesellschaft Mitgefühl für die Homosexuellen zu erbitten, sondern wendet sich selbstbewusst an die eigene Gruppe und konfrontiert diese mit ihrem eigenen Verhalten. Nicht mehr homosexuelle Anpassung, sondern selbstbewusstes Schwulsein stand von da an auf dem politischen Programm.

Während einige Protagonist_innen bereits in der Student_innenbewegung aktiv waren, dort jedoch nur als vereinzelte Schwule, boten diese Gruppen erstmals die Möglichkeit einer kollektiven Organisierung. Diese war notwendig, weil den Schwulen kaum Raum in der Linken eingeräumt wurde. Während viele der Interviewten von schamerfüllten Kindheits- und Jugenderfahrungen in der als repressiv erfahrenen Adenauer-Ära und den eher zufälligen lustvollen sexuellen Begegnungen im öffentlichen Raum berichten wird deutlich, was für ein befreiendes Moment diese kollektive Erfahrung für die einzelnen daran Beteiligten hatte. Verleugnete Wünsche wurden anerkannt und offensiv nach außen getragen, Schamgrenzen überschritten. Ein erstarkendes schwules Selbstbewusstsein ging dabei Hand in Hand mit politisch-theoretischer Bildung, die sich der Frage widmete, inwiefern sich die Unterdrückung der Sexualität als bürgerliche Herrschaftstechnik manifestiert.

Was Emanzipation für die Schwulenbewegung der 1970er nun bedeuten und wie diese realisiert werden sollte, war jedoch mehr als umstritten und führte zu heftigen Konflikten untereinander. Allgemeine Emanzipation in Form der Emanzipation der Gesellschaft wurde mit der Emanzipation der Schwulen zusammen gedacht. Der damals in Bielefeld aktive Detlef Stoffel beschreibt dies folgendermaßen: „Es gab eine diffuse antikapitalistische Grundrichtung. (…) Also wirklich im Geist dieser frühen bis Mitte der 1970er Jahre. Da hat man einfach Systemfragen gestellt. Vor allem in der Beschäftigung mit der Frauenbewegung wurden dann auch Patriarchatsgeschichten diskutiert: Was hat das mit uns zu tun, warum werden Frauen und Schwule unterdrückt, wem nützt das. Es gab eine bestimmte Überzeugung, dass diese bestehenden Strukturen einer freien Entfaltung, unter anderem auch der sexuellen Persönlichkeit, entgegenstehen. Daran hat sich ja bis heute nichts geändert.“ (Henze 2019: 117)

Die Zusammenschlüsse boten vielfach die Möglichkeit, bedeutsame freundschaftliche Bindungen untereinander aufzubauen, die es in der schwulen Subkultur mit ihrer Fokussierung auf Sexualität und Bindungslosigkeit kaum gegeben hatte. Für viele fungierte die Schwulenbewegung als Form einer Wahlfamilie, was Gruppendisziplin, Kaderstrukturen und persönliche Angriffe umso schwerwiegender machen sollte. Im Unterschied zur heterosexuellen Linken, die Promiskuität vielfach als progressiv besetzte, wurde von der Schwulenbewegung hervorgehoben, dass diese Lebensweise auch zwanghafte Komponenten besaß. Offene Beziehungsformen waren bereits etabliert, ebenso beiläufige Sexualkontakte, was jedoch nicht mit Emanzipation gleichzusetzen sei. Sowohl die heterosexuelle Sexualmoral als auch der Umgang der Schwulen mit ihrer eigenen Sexualität wurde kritisiert.

Konfliktlinien

Die aus der Analyse gezogenen (praktischen) Schlüsse waren mit heftigen Konflikten, die Fraktionierungen und Spaltungen umfassten, verbunden. Es bildeten sich zwei Pole heraus. Selbsterfahrungsgruppen sowie die Tunten- und Lustfraktion standen dabei strategisch- und parteiorientierten Theoriegruppen gegenüber.

Während die Tuntenfraktion für eine offensiv nach außen getragene schwule Politik und Theorie plädierte, setzten die Selbsterfahrungsgruppen darauf, dass der Umgang untereinander geändert werden müsse und die dort gewonnenen Erfahrungen des eigenen Schwulseins und damit zusammenhängende Bedürfnisse in unmittelbare Praxis überführt werden sollten. Die Lustfraktion sah die Befreiung der eigenen Lust als ersten praktischen Schritt zur schwulen Emanzipation. Emanzipation ließe sich als Abkehr von Integrationsversuchen und Anpassung an die Normalität fassen. So forderte die Tuntenfraktion die offensive Umbenennung der HAW in eine schwule Befreiungsfront und dass alle im Alltag offensichtlich den Rosa Winkel tragen sollten. Explizit offensiver und lautstarker schwuler Aktivismus sei die richtige Herangehensweise.

Auf der anderen Seite stand der eher strategisch ausgerichtete Teil, der Homosexualität als einen Nebenwiderspruch zum Hauptwiderspruch Kapitalismus betrachtete, wobei der Kampf gegen diesen innerhalb einer sozialistischen Gruppe, die außerhalb der Schwulenbewegung angesiedelt sein müsse, geführt werden solle. Doppelmitgliedschaften in einer Partei und einer Gruppe der Schwulenbewegung waren die Folge. Andere theoretische Impulse orientierten sich zudem an der Kritischen Theorie und ließen sich nicht unmittelbar in politisches Handeln überführen.

Gegenseitig warfen sich die einzelnen Fraktionen vor, dass die jeweils andere Strategie keine umfassende Verbesserung für das Leben der Homosexuellen ermöglichen könnte. Demnach hätten die Theoriegruppen nur schön formulierte Texte und würden sich der heterosexuellen Linken anpassen wollen und damit ihre eigene schwule Agenda verraten. Die Kritisierten warfen der anderen Fraktion vor, dass sie sektiererische und bündnisunfähige Bohemiens seien, die keine für alle Schwulen praktikable Politik zu bieten hätten.

Diese Konflikte zeichnet das Buch entlang zentraler historischer Ereignisse nach. Sei es im Zuge der ersten Schwulendemo, die im Jahr 1972 in Münster stattfand, des sogenannten Tuntenstreits, des Bruchs zwischen der Männer- und Frauenfraktion in der HAW, des Homolulu-Festivals in Frankfurt am Main und der 1981 in der Beethovenhalle stattfindenden Parteienbefragung, die im Chaos enden sollte. Was vielfach folgte, war das Auseinanderbrechen der Gruppierungen, die Beteiligten blieben aber oft weiterhin politisch aktiv.

Mehr als vierzig Jahre später sind die Hoffnungen auf eine umfassende Emanzipation trotz selektiver Verbesserungen immer noch nicht eingelöst worden. Was bleibt, ist ein Akt der kollektiven Selbstermächtigung, der bis heute nachwirkt und zeigt, wie lebensverändernd die Politisierung für die einzelnen Akteur_innen gewesen ist. Es ist eine widersprüchliche Geschichte des Aufbruchs, die Henze dankenswerter Weise nun aufgeschrieben hat.

Patrick Henze: Schwule Emanzipation und ihre Konflikte: Zur westdeutschen Schwulenbewegung der 1970er Jahre, Querverlag, Berlin 2019.