Nach dem Putsch analysiert den autoritären Umbau des politischen Systems in der Türkei seit der Ausrufung des Ausnahmezustands
Als spätabends am 15. Juli 2016 Panzer die Bosporus-Brücke – jene Brücke, die den asiatischen Teil Istanbuls mit dem europäischen verbindet – blockierten, war für die Weltöffentlichkeit bald klar: In der Türkei wird geputscht. Knapp zweieinhalb Jahre später bietet das Buch Nach dem Putsch eine sehr lesenswerte Aufsatzsammlung, die den Putschversuch und den daraufhin verhängten Ausnahmezustand als Ausgangspunkt nimmt und einen umfassenden Einblick in die derzeitige politische Lage der Türkei bietet.
Das Scheitern des Putsches hatte etwa weitreichende Konsequenzen für die sogenannte Gülen-Bewegung, die seit 2002 Partner der AKP war. Die Partnerschaft wurde jedoch zur Feindschaft, 50.000 Mitglieder der Gülen-Bewegung sind derzeit inhaftiert. „Indem er [Erdoğan] seinen Ex-Partner [die Gülen-Bewegung] als gemeinsamen Feind präsentierte, legitimierte er all seine Versuche, (verfassungs-)rechtliche und bürokratische Verfahren zu ändern, um an der Macht zu bleiben“, heißt es im Sammelband.
Das autoritäre Vorgehen trifft nicht nur die Gülenist_innen, sondern die gesamte Opposition. Es kommt zu einer zunehmenden Machtzentralisation. Von der AKP aufwendig inszenierte und auf Social Media verbreitete „Demokratie-Mahnwachen“ verfestigen die nationale Einigkeit – das Bindeglied des autoritären Staatsprojekts: „Theatralischer Pathos ist Teil aller öffentlichen Veranstaltungen, denen Erdoğan beiwohnt“.
Mit der autoritären Verfestigung geht eine Einschränkung der Pressefreiheit einher. „Schlechter als die Türkei sind nur wenige Länder positioniert, darunter der Iran, Somalia und der Sudan“. Die türkische Medienlandschaft ist monopolisiert, manche Medienhäuser unterhalten enge Verbindungen in die Bau- und Immobilienbranche, unabhängige (Print-)Medien sind rar. Einschränkungen betreffen auch die Filmbranche, die „Vorherrschaft der Kommerzialität“ bevorzugt profitorientierte Produktions- und Vertriebsgesellschaften. Im gesellschaftspolitischen Bereich zerstören die Maßnahmen der Regierung und der Behörden im Zuge des Ausnahmezustandes „lang erkämpfte Errungenschaften der LGBTI- und Frauenbewegung auf der nationalen wie auf der lokalen Ebene“.
Der autoritäre innenpolitische Regierungsstil wird durch eine konfrontative Außenpolitik komplementiert. Dabei ist die Abgrenzung zum Westen konstitutiv für eine vom Islam bestimmte Identität der AKP und ihrer Wähler_innen. Einher geht dies mit einer Anti-EU-Haltung. Dadurch inszeniert sich Erdoğan als ein „Anführer, der sich der EU und starken europäischen Ländern widersetzt“.
Die nationale Identität, vermittelt über ein programmatisches Türkentum, wird durch den Umgang mit der „Kurd_innenfrage“ gefestigt. Der Friedensprozess mit den Kurd_innen, der im Dolmabahçe-Abkommen (März 2013) einen Höhepunkt fand, nahm ein schnelles Ende. Für Erdoğan brachte die Friedenspolitik keinen politischen Profit. Vielmehr legitimierte sie die linke, kurdisch geprägte HDP. Trotz der faktischen Beendigung der Friedensverhandlungen nach dem Dolmabahçe-Abkommen und einer verschärften Rhetorik zwischen AKP und HDP, konnte letztere bei den Wahlen im Juni 2015 13 % der Stimmen holen. Die 10 %-Hürde für den Einzug in das türkische Parlament war somit erreicht und damit die Möglichkeit einer absoluten Mehrheit der AKP unterbunden. Die antikurdische Politik ab diesen Wahlen von Seiten der AKP manifestierte sich in einem „emotionalen Bruch“ (S. 176) zwischen Kurd_innen und Türk_innen mit dem Ziel der „Konsolidierung des nationalistisch-konservativen Blocks mit Hilfe eines gemeinsamen Gefühls der existenziellen Unsicherheit“ (S. 117). Gleichzeitig ist dieser emotionale Bruch eine Notwendigkeit für die AKP, um das Bündnis mit der nationalistischen MHP aufrecht zu erhalten, denn der Kampf gegen den inneren und äußeren Feind in Gestalt der Kurd_innen ist eine der wenigen verbindenden Klammern.
Die Wirtschaftspolitik der AKP-Regierung fußt auf der „Unterdrückung von Arbeitnehmer_innenorganisationen“ und der „Verhinderung von Streiks“ (S. 134). An solch ein Fazit anschließend wäre es interessant, wenn in einer zukünftigen Publikation die Rolle von Gewerkschaften, Arbeiter_innenbewegung und Arbeitskämpfen vor und während des Ausnahmezustandes behandelt würde.
Ilker Ataç, Michael Fanizadeh, Volkan Ağar, VIDC (Hg.): Nach dem Putsch. 16 Anmerkungen zur „neuen“ Türkei. Mandelbaum Verlag, Wien 2018