MALMOE

Konföderalismus in Kurdistan

Über die PKK, Rojava und Murray Bookchin

Die Aufregung war groß. Beim Maiaufmarsch der Wiener SPÖ sind SympathisantInnen der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) mit einem Transparent gesichtet worden, auf dem „Gegen das Verbot der PKK“ zu lesen war. Heinz-Christian Strache zeigte sich „schockiert“, dass „offensichtlich Mitglieder der Terrororganisation PKK“ am roten Aufmarsch teilgenommen hätten (die PKK steht seit 2002 auf der EU-Terrorliste). Und Sebastian Kurz forderte ein „völliges Kappen aller Verflechtungen der SPÖ mit extremistischen Organisationen wie der stalinistischen PKK“.
Wie zu erwarten, antwortete der SPÖ-Spitzenkandidat bei der EU-Wahl Andreas Schieder, seine Partei habe zu der PKK keine Nähe. Der SP-Bundesgeschäftsführer Thomas Drozda meinte, dass dies womöglich alles nur eine Verwechslung sei, es sich nicht um den heurigen Maiaufmarsch handeln könne, und Pamela Rendi-Wagner beeilte sich zu versichern, dass SympathisantInnen der PKK künftig nicht mehr mit der SPÖ mitmarschieren dürften.

Anstatt zu betonen, dass die Kurdinnen und Kurden der Volksverteidigungseinheiten (YPG) in Nordsyrien, die mit der PKK eng verflochten sind, einen berechtigten Kampf gegen den Islamischen Staat und die Regimes von Assad und Erdoğan für kulturelle und soziale Befreiung führen, ein Kampf der es verdient, unterstützt zu werden, steckt die SPÖ tief in ihrem Opportunismus und ihrer Feigheit. Die Behauptung, dass die PKK eine Terrororganisation (Strache) und noch dazu eine stalinistische (Kurz) sei, veranlasst Schieder, Drozda und Rendi-Wagner zum reflexartigen Kniefall – für internationale Solidarität mit dem Kampf von Befreiungsbewegungen bleibt da kein Platz mehr! Mit dieser MittäterInnenschaft an der Diffamierung der YPG und der PKK erspart man sich eine Auseinandersetzung mit deren Kampf, Methoden und Zielen. Aber nur in einem solidarischen Diskussionsprozess ist es möglich zu verstehen, was in Nordsyrien, in Rojava, wirklich passiert und wie es dazu kommen konnte. Dazu ist ein Blick in die jüngste Geschichte der PKK unumgänglich, denn es hat seit der Inhaftierung des Vorsitzenden der PKK, Abdullah Öcalan, einen bedeutsamen Paradigmenwechsel gegeben, der stark vom Einfluss Murray Bookchins getragen war.

Die Philosophie von Murray Bookchin

Murray Bookchin (14.1.1921–30.7.2006) war ein US-amerikanischer libertärer Sozialist und anarchistischer und ökologischer Denken. Seine Eltern waren jüdische ImmigrantInnen aus Russland. Mit neun Jahren wurde er Mitglied in einer kommunistischen Jugendgruppe. Desillusioniert durch deren autoritären Charakter trat er einige Jahre später wieder aus. In New Jersey arbeitete Bookchin in einer Gießerei und als Gewerkschaftsaktivist, bevor er der US-Armee beitrat. Später arbeitete er in der Autoindustrie, verließ die Branche und die Gewerkschaft aber nach dem General-Motors-Streik von 1946. Seine Interessen verschoben sich auf die Umwelt und das Schreiben. Er schloss sich dem Kreis um die Zeitschrift Contemporary Issues an, ehemalige TrotzkistInnen um den deutschen Emigranten Josef Weber. In Contemporary Issues (und parallel in der deutschsprachigen Ausgabe Dinge der Zeit) veröffentlichte er seine ersten Artikel, unter anderem zur Lebensmittelchemie. Bookchin zählt zu den VorreiterInnen der ökologischen Bewegung, der er sich als Theoretiker eng verbunden fühlte. Er meinte, dass der Beherrschung der Natur durch den Menschen immer Hierarchien und Machtstreben zugrunde lägen. In der Ablehnung von Hierarchie und Herrschaft entwickelte Bookchin seine anarchistische Ethik und Philosophie.

Beeinflusst von der Spanischen Revolution entwarf er eine Soziale Ökologie, die auf Dezentralisierung, Selbstverwaltung und Selbstorganisation aufbaut, den Klassenkampf alter Prägung ablehnt und stattdessen auf Stadtteilarbeit, BürgerInnenversammlungen und Direkte Demokratie setzt. Wichtiges Vorbild war für ihn – neben den Sektionen der Französischen Revolution, der Pariser Commune und der Rätebewegung nach dem 1. Weltkrieg – die Polis der griechischen Städte im Altertum, deren Versammlungen und gleichberechtigte Entscheidungsmöglichkeit der männlichen Vollbürger er als vorbildhaft sah, auch wenn ihm bewusst war, dass diese frühe Variante der Demokratie die Frauen ausschloss und zudem auf Sklaverei basierte.
In marxistischen Kreisen wurde er durch seine Kritik an der marxistischen Lehre bekannt. Im Mai 1969 veröffentlichte er sein Pamphlet Hör zu, Marxist!. Darin schrieb er, angesichts der Entwicklung, die die 68er-Bewegung einzuschlagen begonnen hatte: „Die ganze alte Scheiße der dreißiger Jahre kommt wieder: der Quatsch über die ‚Klassen-Analyse‘, die ‚Rolle der Arbeiterklasse‘, die ‚geschulten Kader‘, die ‚Partei als Avantgarde‘ und die ‚Diktatur des Proletariats‘. Es ist alles wieder da und primitiver als je zuvor.“ Er setzte sich darin mit den geschichtlichen Grenzen des Marxismus, dem Mythos vom Proletariat und dem Mythos von der Partei eingehend auseinander und endete mit dem Ruf: „Hör zu, Marxist: Die Organisation, die wir aufbauen wollen, ist von der gleichen Art wie die Gesellschaft, die durch unsere Revolution entstehen wird. Entweder wir lösen uns von der Vergangenheit – als einzelne und in der Gruppe – oder wir werden den Kampf um die Zukunft verlieren.“

Bookchin war ein radikaler Antikapitalist und Befürworter der Dezentralisierung und des Munizipalismus. Dieser knüpft an der anarchistischen Idee an, dass echte politische Teilhabe nur face to face möglich ist. Der Demokratische Konföderalismus Abdullah Öcalans ist ein von Murray Bookchin inspiriertes Gesellschaftsmodell, das von der PKK auf einer Versammlung im Mai 2005 ins Parteiprogramm aufgenommen wurde.

Bookchin und Öcalan

Bookchin ist einer der AutorInnen, die das Werk des inhaftierten Vorsitzenden der PKK, Abdullah Öcalan, federführend und damit den Paradigmenwechsel innerhalb der PKK, weg von einem marxistisch-leninistisch (stalinistisch) orientierten nationalen Befreiungskampf hin zum libertären Modell des Demokratischen Konföderalismus, beeinflussten. Dieses Modell prägt die kurdische Realität und damit den gesamten Mittleren Osten entscheidend mit und ist für viele Menschen weltweit zu einer Alternative gegenüber der kapitalistischen Moderne, individualistischem Anarchismus und staatsfixiertem Marxismus-Leninismus geworden. Bookchin und Öcalan haben einen gänzlich unterschiedlichen Hintergrund, blicken jedoch ähnlich auf die Weltgeschichte, die Geschichte der kapitalistischen und der demokratischen Moderne und entwickeln mit der Methode der Kritik und Selbstkritik, so schmerzlich sie auch sein mag, neue Paradigmen und Praktiken. So fand sowohl bei Öcalan als auch bei Bookchin eine Abkehr von den Modellen des historischen Materialismus statt, welche eine bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft zur Voraussetzung macht, um zu einer befreiten Gesellschaft, einer kommunistischen Gesellschaft zu kommen.

Ökologische Widersprüche werden als entscheidende Faktoren zur Begrenzung des kapitalistischen Systems gesehen. Organisierung muss in diesem Sinne auch jenseits von Klassenkategorien stattfinden. Stattdessen wird bei Bookchin auf das Empowerment des Individuums hin zum Zoon politicon – zum politischen Wesen – Wert gelegt, das sich selbst in den Räten und in der Selbstverwaltung repräsentiert. An die Stelle einer zentralistischen Organisierung und der Diktatur des Proletariats tritt die Konföderation der Räte. Wie es in Rojava ebenfalls gerade umgesetzt wird, wird auch im kommunalistischen Projekt Bookchins die Ökonomie nicht verstaatlicht, sondern kommunalisiert – das heißt, die Ökonomie wird Teil der Sphäre direkter politischen Entscheidungen.

Ein entscheidender Punkt in Bookchins Modell ist die Notwendigkeit von Führung entlang politisch-ethischer Kriterien. Führung verschwindet nicht, indem sie negiert wird, sie wird kontrollierbar dadurch, dass man sie benennt. Informelle Strukturen sind schwerer zu hinterfragen als formelle. Bookchin schlägt vor, einen libertären Ansatz zum Begriff der Führung mit entsprechenden Kontrollmechanismen zu entwickeln, um diesen zu definieren, einzugrenzen, aber auch die Stärken und Erfahrungen von Individuen zu nutzen. Verbindlichkeit und Verantwortung stellen auf jeder Ebene der Organisierung zentrale Werte dar.

Das Zusammenspiel der Ideen von Bookchin und Öcalan können wir gerade in Rojava, aber auch in den anderen Teilen Kurdistans beobachten und weltweit finden Diskussionen um die Frage statt, ob Demokratischer Konföderalismus auch eine Alternative für die kapitalistischen Metropolen sein kann, oder ob es eine Bewegung ist, die im antikolonialen Kontext wirkmächtig ist, in Industrienationen jedoch nicht.

Im kurdischen Rojava und innerhalb der PKK und YPG werden seine Ideen und Konzepte aufgenommen, seit Öcalan im Gefängnis sich mit Bookchins Kommunalismus auseinandergesetzt hat. Nicht zuletzt seinem Einfluss verdankt die PKK ihre Abwendung vom Ziel eines eigenständigen kurdischen Nationalstaates hin zu dezentralen Strukturen, die eine regionale Gegenmacht aufbauen und so zu einer weitreichenden Autonomie innerhalb der Staaten der Türkei, Syriens, dem Iran und Irak führen könnten. Dabei ist Rojava das Gebiet, in dem diese politische Richtung derzeit aufgrund des Engagements der YPG am meisten greift, und es zeigen sich durchaus ermutigende Schritte in Richtung öffentlicher Versammlungen, BewohnerInnenbeteiligung an Entscheidungsprozessen und Anerkennung der Gleichberechtigung der Frau. Trotzdem sind die Organisationen YPG und PKK noch nicht „von der gleichen Art wie die Gesellschaft, die durch unsere Revolution entstehen wird“, um aus Hör zu, Marxist! zu zitieren. Aber weit davon entfernt eine stalinistische Terrororganisation zu sein, haben sich die Kurdinnen und Kurden der YPG und der PKK auf den Weg gemacht, eine freie und gerechte Gesellschaft zu erkämpfen. Sie dabei bestmöglich und mit offenen Augen zu unterstützen sollte unser aller Anliegen sein.