MALMOE

Die innere Brutalität des ­Fußballspiels

Sport und Spiel sagen viel über die Gesellschaft aus. Die Art und Weise, wie wir seit knapp 150 Jahren Fußball spielen, macht die Zwänge unseres Denkens deutlich sichtbar.

Die Olympioniken der Antike bestritten ihre Wettkämpfe nackt, genauer bestritten nackte Männer die Spiele. Der Leichnam eines Sportlers, der im Spiel gestorben war, konnte noch zum Sieger gekürt werden. So geschah es einem zweifachen Olympiasieger aus Phigalia 564 v. Chr. Er soll, während er im Ringkampf erdrosselt wurde, dem Gegner noch solche Schmerzen zugefügt haben, dass dieser aufgeben musste. Kein Skandal war die Folge, stattdessen wurde der tote Leib des Arrhachion von Phigalia zum dritten Mal zum Sieger der olympischen Spiele gekrönt.1Norbert Elias: Die Genese des Sports als soziologisches Problem. In: Ders. /Eric Dunning: Sport und Spannung im Prozeß der Zivilisation. Suhrkamp, Frankfurt/Main 2003

Auch das Mittelalter zeigte seine archaische Seite im Sportverständnis. Sport und Krieg waren kaum zu unterscheiden, Ruhm und Ehre wurden in beidem errungen. Die jungen, reichen Männer waren ständig beschäftigt, entweder damit, sich bei sportlichen Ritterspielen, wir kennen sie dank Heath Ledger alle, auf den Krieg vorzubereiten, oder um im Krieg zu sein. Es wurde getötet, ob im Krieg oder im Spiel und es wurde früh und grausam gestorben. Deshalb war keine Zeit, den unübersichtlichen Ballspielen, die in den Gassen der mittelalterlichen Städte vor sich gingen, eine Struktur zu geben.

Die Geburt eines Weltsports

Die Geschichte des Fußballs beginnt deshalb erst im 19. Jahrhundert, in England. Damit unterschlägt man die vielfältigen und diffusen Erscheinungsformen der Ballspiele vor der Industrialisierung. Die Dorfbewohner_innen des Mittelalters gingen einer interessanten Beschäftigung mit dem Ball nach, der man ohne Zweifel eine gewisse Nähe zum modernen Fußball unterstellen muss: Zwei Dörfer spielten darum, welches Dorf zuerst einen Ball zwischen eines der Tore der Stadtmauern des anderen Dorfes beförderte. Die Distanz zwischen den Dörfern spielte dabei keine Rolle.2Norbert Elias / Eric Dunning: Volkstümliche Fußballspiele im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen England. In: Dies.: Sport und Spannung im Prozeß der Zivilisation. Suhrkamp, Frankfurt/Main 2003

Es musste das 19. Jahrhundert und der erste Siegeszug der Maschinen kommen, um den Fußball zu erschaffen. Mit der Industrialisierung kamen nicht nur die Massen an proletarischen Arbeiter_innen, die sich schon bald die Fußballschuhe binden sollten, sondern auch der machende und überhebliche Geist der Aufklärung. Er brachte nicht nur die Explosion der Produktivkraft, sondern auch die Befreiung von alten Autoritäten. Alte Regeln und Anstandsnormen gingen unter, das Bürger_innentum kam zu Macht und Zeit. In Cambridge verfassten Studierende die ersten Fußballregeln und 1863 gründete sich die Football Association in England. In der Neuen Welt musste zügig bestimmt werden, was denn Fußball genau sei.

Circa 10 Jahre später waren die meisten Eckpunkte entschieden, der Fußball hatte das Gesicht bekommen, das er bis heute trägt: elf Spieler_innen, Eckbälle, Freistöße, Abseitsregel, Schiedsrichter_in, Handspiel nur durch Torhüter_in. England, das Land der Imperialist_innen und Billardspieler_innen, hatte das Spiel der Moderne zur Welt gebracht.

Was ist der Grund, dass Fußball diesen Platz eingenommen hat? Europa exportierte im Laufe der Moderne viele Sportarten, doch zu höchstem globalen Rang schaffte es der Fußball. Was sagt uns Fußball noch alles, außer, dass die Menschen die ihm Aufmerksamkeit schenken, oftmals zu Sexismus, Nationalismus, Faschismus, Machismus und Gewaltverherrlichung tendieren?

Was Fußball über unser Denken verrät

Versteht man Fußball in engstem Zusammenhang mit dem gesellschaftlichen Selbstverständnis des Denkens selbst, offenbart das Spiel seine ganze Wahrheit: ein Rechteck, zwei Tore, zwei Mannschaften und ein Schiedsrichter, der das Spiel kontrolliert. Die Klarheit des Fußballs, dieser Sportart, die mittlerweile zum Spielball des Kapitals wurde, die ausgelutscht und ausgesaugt wird durch gierige Geschäftemacherei, ist erschreckend. Den für jedes Spiel so wichtigen Moment der Spontanität findet man im Fußball nur durch überraschende Dribblings und Pässe, der Rahmen des Spiels ist allerdings starr und strikt.

Der aufgeklärte Geist, der sich das Objekt zu seinem Gebrauch gefügig machen will, erlaubt im Sport im Allgemeinen und im Fußball im Besonderen keinen Moment der Unsicherheit. Nun steckt aber im Spiel stets ein Moment des Nicht-Identischen.3https://deacademic.com/dic.nsf/dewiki/352959 Man denke an die Fehlentscheidung des Schiedsrichters, den letzten Platz des Unbestimmten im modernen Fußball – diese wird allerdings gerade durch die Supervisoren vor den Bildschirmen ersetzt. Damit verliert Fußball eine seiner letzten unbestimmten Variablen, alles, was übrigbleibt, sind nackte Zahlen.

Die Zahl ist es zuletzt, die bei den meisten Sportarten der Moderne entscheidet und die Objektivität des Urteils verkündet. Die grausame, eiskalte Klarheit von Fußball zeigt sich gerade auch in der Art des Messens: Egal, wie ein Tor zustande kommt, es zählt immer nur einen Punkt, im Gegensatz zum Basketball oder zum Football. Ein Schiedsrichter hat nur zwei Karten, um gegen disziplinarische Vergehen vorzugehen, im Gegensatz zum Eishockey, zum Rugby. In seinem Minimalismus ist Fußball vollkommen eindeutig, es ist die brutale Vernunft, die aus der Konstruktion des Fußballspiels spricht.

Fußball wurde nicht erschaffen, aber doch geformt von einer aufklärerischen Vernunft, die sich über die Natur erheben wollte. Es ist jener Sport, der in der Moderne einen besonderen Platz einnehmen sollte, ein kulturelles Produkt über das FIFA und UEFA eine Monopolmacht besitzen.

Aber vielleicht liegt es gar nicht an FIFA und UEFA, dass jene, die Fußball performativ konstituieren, Spieler_innen, Fans, Sponsoren, zur Reproduktion von Rassismus, Sexismus und Nationalismus beitragen. Vielleicht liegt es in der Struktur von Fußball selbst, in seinem billigen Dualismus zwischen „Wir“ und „Die-da-Gegenüber“ – vielleicht kann Fußball immer nur bedingt interkulturell und sozial vermitteln, weil er letztlich immer nur eine nicht zu überwindende Konfrontation erneuert. Die Fans bei der Weltmeisterschaft können gemeinsam feiern, die Mannschaften werden dennoch gegeneinander antreten und eine Fangruppe, ja eine ganze Nation, liegt danach in Tränen, während die andere jubelt.

Den Dualismus zwischen Siegen und Verlieren aufzuheben, das vermag auch dreiseitiger Fußball nicht. Aber ein Fußballspiel, das nicht zwischen zwei, sondern drei Teams und auf einem Hexameter ausgetragen wird, könnte dem Spiel den Moment des Unbestimmten zurückgeben.

Und immerhin: Würden drei Mannschaften ein Fußballspiel bestreiten, zumindest gäbe es zwei verlierende Teams, die gemeinsam das Tränental beschreiten könnten.

Wir sollten wieder spielen

Möglicherweise waren es solche Gedanken, die den Situationisten Asger Jorn dazu veranlassten, dreiseitigen Fußball zu entwickeln. Weg mit dem bipolaren Fußball, der eine Analogie zu Proletariat und Bourgeoisie darstellt, ergänzt vom Staats- und Medienapparat, verkörpert vom Schiedsrichter. Weg mit einem Sport, der dem Spiel jede Spontanität entzieht. Als Überraschungen bleiben ausschließlich scheinmagische Aktionen wie die Hand Gottes des Diego Maradona zurück.

Die Wilde Liga im Augarten versucht, den Fußball von seinem schmerzhaften und tragischen Schicksal als Kind des kulturellen Unbehagens zu befreien und ihm wieder das Moment des Nicht-Identischen zurück zu geben. Nicht nur, dass die Regeln, „nach welchen man weh tun darf, und nach welchen man misshandelt wird“,4Theodor W. Adorno/ Max Horkheimer: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Fischer, Frankfurt/Main 1988 wie Adorno den Fußball definiert, ohne Schiedsrichter bestimmt werden. Es wird auch dreiseitiger Fußball gespielt: Dabei gewinnt, wer am wenigsten Tore bekommt, überraschende Konter sind häufig, Verwirrungen bei Standardsituationen sind hoch. Die brutale Klarheit des Fußballs wird allerdings mit jedem Spielzug überwunden, Nicht-Identität spielt ständig mit. Wer ein echtes Spiel spielen will, sollte zur Wilden Liga schauen.

wildeligawien.wordpress.com