MALMOE

Beziehungsweise Rojava

Geschlechterperformances in Ibrahim Amirs Theaterstück Rojava, eine von den Adamczak’schen Beziehungsweisen inspirierte Lesart

Zu Beginn des Stücks steht eine Frau allein auf der Bühne und lamentiert. Verlassen wurde sie von einem Sohn, der ausgezogen ist, um in einem fremden Land zu kämpfen. Sie kann nicht verstehen, was ihn dazu bewogen hat, das komfortable Leben, das sie ihm ermöglicht hat, aufzugeben. Sie fühlt sich verraten, betrogen um all die Opfer und Entbehrungen, die sie auf sich genommen hat, um eine gute mitteleuropäische Mutter zu sein, die ihr Kind im trauten Heim mit Eiernockerln füttert. Ihr Sohn Michael ist, wie wir wenig später erfahren, inspiriert von seiner kurdischen Ex-Freundin nach Rojava gegangen, um dort an „einem Kampf für die ganze Menschheit“, wie er sagt, teilzunehmen.

Wir stehen also schon am Anfang vor einer durchwegs binär strukturierten Beziehungssituation: Auf der einen Seite die Mutter, ängstlich, verbittert und verhaftet in einer Sphäre des Privat-Häuslichen, über die sie uneingeschränkte Kontrolle beansprucht. Auf der anderen die Ex-Freundin, die den etwas unentschlossenen und zögerlichen Michael darin bestärkt, nach Rojava zu gehen. Sie hilft ihm dabei, die Reise zu organisieren und Kontakte in Nordsyrien zu knüpfen. Michael figuriert – als Sohn, der gerne Eiernockerl isst, sowie als junger Linker, der einen konkreten Ort sucht, von dem aus er die ganze Welt verändern kann – seinerseits als Schauplatz einer indirekten Auseinandersetzung zwischen unterschiedlichen Beziehungsweisen, von denen die eine traditionell weiblich, die andere vorwiegend männlich markiert ist.

Wütende Pietà und kämpfende Nonnen

Auch im weiteren Verlauf ist Michaels Handeln vor allem in Beziehungen zu Frauen* eingebettet: Seine Mutter bildet das ganze Stück über die Reflexionsfläche seiner Eindrücke und oft auch beschönigten Schilderungen aus Rojava. Wir haben dabei im Grunde eine aufgeklärte Pietà-Situation vor Augen – aufgeklärt, da die trauernde Mutter auch wütend sein darf, vor allem im Gespräch mit Alan, der mit Michaels Pass von Nordsyrien nach Wien gereist ist, um Asyl zu beantragen. Zunächst beschimpft sie Alan, wirft ihm vor, sich auf feige Art und Weise jenem Kampf entzogen zu haben, den nun ihr Sohn an seiner Stelle führen muss. Die Ausverhandlung der Beziehung zwischen den beiden, dem syrischen Schutzsuchenden und der verlassenen Mutter, mündet schließlich in den Rückzug in ein erprobtes Verhältnis: Sie ‚adoptiert‘ Alan gleichsam, richtet ihm das Bett in Michaels Zimmer und umsorgt ihn ‚wie einen Sohn‘.

In Rojava findet Michael schnell seinen Platz an der Seite seiner Kommandantin Hevin. Sie kümmert sich um den unerfahrenen Europäer, dem es nicht gelingt, auch nur einen Schuss abzugeben, da er jedes Mal in Ohnmacht fällt, kurz bevor er den Abzug seines Gewehrs betätigt. Die Art und Weise, wie sich Hevin um Michael annimmt, ist eine schwesterlich-kameradschaftliche, wobei die flachen Kommandostrukturen der YPG/YPJ, der Yekîneyên Parastina Gel/Yekîneyên Parastina Jin, auch persönliche, freundschaftliche Gespräche ermöglichen. Schließlich verliebt sich Michael in Hevin. Doch den Kämpfer*innen ist es verboten, Liebesbeziehungen einzugehen. In einem langen Dialog wird Hevin von ihrer Kommandantin an das Zölibat erinnert, an das sich die Mitglieder der Frauen*verteidigungseinheiten zu halten haben, um dem Stigma der ‚Hure‘ in den traditionellen Herkunftsstrukturen zu entgehen. Der Preis dafür, als Kämpferin* breitere gesellschaftliche Akzeptanz zu finden, besteht darin, auf alle jene Beziehungsweisen zu verzichten, die nicht unmittelbar mit Kampf und Kamarad*innenschaft verknüpft sind. Wir fühlen uns dabei an das Bild kämpfender Nonnen erinnert: Junge Frauen und Mädchen, die oftmals Gewalt in ihren Herkunftsfamilien oder dem Schicksal von Verheiratung entfliehen wollen, schließen sich den Kampfeinheiten an. Sie entsagen der Rolle, die für sie in patriarchalen Strukturen, die weniger Frauen* als Weiblichkeit systematisch verachten (vgl. Adamczak, 132), vorgesehen sind, indem sie sich jedes Begehren, das von einem kämpferischen, revolutionären abweicht, versagen.

Bürgerlich-kapitalistische Feminisierung vs. zölibatäre Maskulinisierung

Die „historische Gestalt Geschlecht“ (ebd., 169) wird in Ibrahim Amirs Theaterstück auf eine recht traditionelle Weise performt. Binär strukturiert sind allerdings nicht die Figuren nach ihrem Geschlecht, sondern die Figurationen von privat-häuslich, europäisch-westlich und kämpferisch-revolutionär, kurdisch-östlich. Beide Seiten werden jeweils von Frauen verkörpert, die auf unterschiedliche Weisen von patriarchalen Strukturen daran gehindert worden sind, „den Reichtum des Geschlechts […] als ein[en] Reichtum an Möglichkeiten – von Denk-, Erlebnis-, Arbeits-, kurz: Existenzweisen – [zu] verstehen“ (ebd., 173) und sich durch eine Auswahl anzueignen: „Es müssen Wahlen getroffen werden, weil vieles, wenn nicht das Allermeiste, was in der historischen Form des Geschlechts an kulturellem Reichtum akkumuliert wurde, im emphatischen Sinne ungenießbar ist und nur schwer von den Spuren der Gewalt seiner Hervorbringung getrennt werden kann“ (ebd.).

Diese Wahlmöglichkeiten jedoch sind beiden Seiten verwehrt: Der ‚guten‘ europäischen Mutter durch eine bürgerlich-kapitalistische Feminisierung einerseits, den Kämpfer*innen durch eine zölibatäre Maskulinisierung andererseits. Dadurch geraten beide Seiten im Sinne eines christlich-ikonografischen Rollenspektrums zu Märtyrerinnen: die Mutter, die ihren Sohn verliert, und die Kämpfer*innen, denen aufgrund ihrer sexuellen Entsagung ein glorreicher ‚Heldentod‘ winkt.

Im gesamten Stück gibt es keine Auseinandersetzung zwischen diesen Figurationen und somit auch keine Möglichkeit, die Beziehungsweisen neu zu verhandeln. Selbst das Gespräch zwischen Hervin und ihrer Kommandantin steht ganz im Zeichen einer maskulinistischen Norm, die es durch Disziplin und Stärke einzuhalten, durch den Verzicht auf sexuelle Beziehungen gar noch zu übertreffen gilt. Dass im zeitgenössischen Rojava in Form der geschlechterparitätischen Vertretungsstrukturen sowie durch stete, kleinteilige und solidarische Arbeit an neuen Beziehungsweisen im Hinblick auf die „historische Gestalt Geschlecht“ gewoben wird (vgl. die Artikel von Peter Haumer und Andreas Gautsch in MALMOE 87), wird im Theaterstück nicht vermittelt. So wenig über den Freiheitskampf der Kurd*innen und ihren Aufbau neuer gesellschaftlicher Strukturen in einer breiteren, europäischen Öffentlichkeit bekannt ist, so zahlreich finden sich in bürgerlichen Medien Beiträge zu den Frauenmilizen der YPJ. Angeboten wird dabei vor allem ein sauberer, heller Gegenentwurf zu den finsteren, barbarischen IS-Kämpfern. Oftmals wird von den 15.000 bis 17.000 Frauen, die in Rojava kämpfen, ein irritierend widersprüchliches Bild gezeichnet: mit der Waffe in der Hand oder an der Schulter, ordentlich gekämmt, singend, kochend, manchmal nachdenkend über die Tatsache des Tötens und Getötetwerdens. Wir denken dabei an ein in Europa gut verträgliches Bild von Revolutionär*innen: Sie sind sowohl räumlich als auch auf einer nach eurozentrischer Manier konstruierten Zeitachse weit genug entfernt, um in einem umfassenden Sinn bedrohlich zu sein. Das paternalistische Wohlwollen gilt den bewaffneten Frauen* ebenso wie Rojava als östlicher Region – beide haben ‚endlich‘ begonnen, sich von dem ‚ewig rückständigen‘, islamisch geprägten Mittleren Osten zu emanzipieren. Auch die sexuell enthaltsame (‚jungfräuliche‘) Kämpferin ist in Europa ein geläufiger, über Jahrhunderte hinweg tradierter Topos.

Wir wünschen uns Erzählungen, Berichte und Theaterstücke zu Rojava, die weniger auf etablierte Geschlechterverhältnisse hin maßgeschneidert sind und mehr von der Arbeit an neuen Beziehungsweisen, die gerade dort stattfindet, in den Blick nehmen, denn: „Da Revolutionen wesentlich Konstrukteurinnen von Beziehungsweisen sind, Geschlechterverhältnisse aber Beziehungen von Nah- und Fernbeziehungen über die Grenzen sozialer Sphären hinweg organisieren, befindet sich das Geschlechterverhältnis nicht in der Peripherie, sondern im Herzen der Revolution. Damit ist nicht gesagt, dass die anderen Beziehungsweisen – Stadt-Land, Mensch-Natur, Innen-Außen – in der Peripherie angesiedelt wären. Das ‚Herz‘ der Revolution ist groß“ (Adamczak, S. 221).

Trotz und ja, vielleicht auch gerade wegen dieser Kritik an den traditionellen Geschlecherperformances war das Stück Rojava in der Inszenierung von Sandy Lopičić ein sehr sehenswertes.

Bini Adamczak: Beziehungsweise Revolution. 1917, 1968 und kommende. Suhrkamp, Berlin 2017