Die Verhaftung und drohende Auslieferung des Wikileaksgründers Julian Assange an die USA sorgt international für mediales Aufsehen wie für Verwirrung. Wenn heute die journalistische Objektivität zum Kampfbegriff avanciert ist, so muss einsehbar sein, wie zeitgenössische Gesellschaftskritik und investigativer Journalismus sich in dieser Affäre verschränken.
Von 19. Juni 2012 bis zum 11. April 2019 war Julian Assange Bewohner der ecuadorianischen Botschaft in London, unter dem Titel eines Asylberechtigten aufgrund von drohender Gefahren durch politische Verfolgung. Genauer ausgedrückt handelte es sich für den Wikileaks-Aktivisten und Mitbegründer um die Gefahr, im Anschluss an die Veröffentlichung vertraulicher Dokumente zu militärischen Interventionen und den dabei begangenen Kriegsverbrechen der USA in Afghanistan und dem Irak seit den Terroranschlägen am 11 September 2001, in den USA angeklagt und an sie ausgeliefert zu werden. Es bestand der Verdacht, dass ihm dort kein faires Verfahren bevorstünde.
Komplexe strafrechtliche und politische Situation
Nur wenige Tage nach dem Entzug des Asylstatus’ und der unmittelbaren Inhaftierung durch die britische Polizei befindet sich Assange derzeit im britischen Gefängnis, verurteilt zu einer – von vielen als unverhältnismäßig hoch kritisierten – Haftstrafe von 50 Wochen wegen vorsätzlichen Strafentzuges und Verletzung der Kautionsauflagen. Doch nun zeigt sich, dass zwei weitere Verfahren im Hintergrund eröffnet werden: einmal eine Anklage vonseiten der USA aufgrund des Verdachts auf Spionage, und eine weitere von Schweden als Wiederaufnahme einer Anklage eines „minderschweren Falls von Vergewaltigung“. Letztere Anklage wurde von Assange bestritten und als Vorwand zu einer weiterführenden Auslieferung an die USA angesehen. Auch der aktuelle Chefredakteur von Wikileaks, Kristinn Hrafnsson, sieht dieses Motiv und den nachweislichen politischen Druck seitens der USA als Hauptgrund für die Wiederaufnahme des Verfahrens. Trotz aller möglichen geheimdienstlichen Verstrickung, die gegebenenfalls zu falschen Beschuldigungen geführt haben mag, sollte angemerkt werden, dass die Vorwürfe schwerer sexueller Gewalt gegen Frauen von Assange immer eher abgetan, als widerlegt wurden. Sein Bedürfnis die eigene Unbescholtenheit zu verteidigen war besorgniserregend gering und ebenso irritierend ist es, dass heute diese (möglichen) Gewaltakte in der Beurteilung der Situation kaum mehr eine Rolle spielen.
Die damalige Informantin für die Veröffentlichungen zu Wikileaks, Chelsea Manning, ihres Zeichens ehemalige Geheimdienstmitarbeiterin im US-amerikanischen Militär, war bereits 2013 zu 35 Jahren Haft verurteilt worden. Sie kam allerdings im Jahr 2017 aufgrund einer von Ex-Präsidenten Barack Obama angeordneten Milderung des Strafmaßes frei, nur um knapp zwei Jahre später, am 8. März dieses Jahres für 62 Tage in Beugehaft genommen zu werden, eine Beugehaft, die sie dazu bringen sollte, belastbare Details zu den Wikileaks-Enthüllungen gegen Assange zu liefern. Nach Ablauf dieser vorübergehenden Haft und unter Verweigerung der Aussage war sie ein Woche auf freiem Fuß, nur um vor kurzem erneut vor ein Geschworenengericht, unter Ausschluss staatlicher und öffentlicher Kontrolle, in Virginia geladen und zu Beugehaft sowie zu einer Geldstrafe von 500 Dollar pro Tag der Aussageverweigerung verurteilt zu werden.
Die politische Zentralität dieser Angelegenheit für die Regierung Donald Trumps dürfte bereits in diesem schnellen Überblick durchscheinen und täglich mehren sich die Details über die Umstände der Anklage von Assange, die Möglichkeit einer Auslieferung an die USA und die menschenrechtlich teils fragwürdige Behandlung der relevanten Akteure in diesem Fall. Die liberalen Medien sorgen unterdessen vor allem durch ihre Orientierungslosigkeit in der Bewertung des Geschehens für Verwunderung. Kaum ein liberales Zeitungsmedium, das hinsichtlich der Affäre um Wikileaks nicht mehrmals die politische Seite gewechselt hätte. Gegenüber einem solchen moralischen Wankelmut kann jedoch ein wenig politische Theorie Abhilfe schaffen.
Die veränderte Form der Kritik
In den letzten Jahrzehnten nach dem Ende des Kalten Krieges wurde die Rolle investigativer Enthüllungen im politischen Prozess immer bedeutender und im gleichen Ausmaß immer problematischer für die Staatsmacht. War zuvor Kritik an der eigenen Regierung zwar durchaus erlaubt, wenn nicht sogar erwünscht, geschah dies auf Basis einer liberalen Idee des öffentlichen Dialoges und der Einrichtung des Gemeinwesens. Erinnert sei nur an den Schriftsteller Heinrich Böll in der BRD oder an Jean-Paul Sartre in Frankreich. Überall war die Frage nach politischen Maßnahmen und ihrer Akzeptierbarkeit von größter Bedeutung. Auch entsprach der oder die öffentliche Intellektuelle einem präzisen Bild, wie Michel Foucault festhielt, es war nämlich „par excellence der Schriftsteller: universelles Bewusstsein, freies Subjekt, als welches er sich jenen im Diensten des Staates und des Kapitals entgegenstellte.“
Dagegen wurde in dieser Periode das Aufdecken jener staatlichen Machenschaften, die gegen die eigene Bevölkerung gerichtet waren, direkt als Verrat und Komplizenschaft mit der polaren Gegenseite interpretiert – der Schaden am Eigenen hilft dem Feind. Wie heute deutlicher wird, war die Form des öffentlichen Intellektuellen und seiner Kritik von historischen Bedingungen getragen, die gewissermaßen als unausgesprochener Konsens anzusehen sind. Dieses gegenseitige Einverständnis betraf gerade jene Punkte, die unter den heutigen Bedingungen in der Krise stehen, nämlich das geheime Walten staatlicher Funktionen abseits der Öffentlichkeit: in den Geheimdiensten, in Militäroperationen oder in bilateralen Absprachen zwischen Staaten.
Halten wir uns weiter an Michel Foucault, so besteht die neuere Rolle der oder des Intellektuellen nicht mehr darin, „das Bewusstsein der Leute oder das, was sie im Kopf haben, zu verändern, sondern die politischen, ökonomischen, institutionellen Regime der Wahrheitsproduktion“ zu transformieren. Diese Aussage impliziert, dass die Kritik keine Belehrung sein kann, sondern einer Infragestellung der Beziehung zwischen einer Bevölkerung und seiner Herrschenden entspricht, etwa im Aufdecken unlauterer Praktiken des Staates.
Vieles spricht dafür, dass Julian Assange die Rolle eines zeitgenössischen Kritikers erfüllt. Denn das Vorgehen von Wikileaks, etwa die begangenen und dokumentierten, jedoch geheim gehaltenen, Kriegsverbrechen („warlogs“) der mitverantwortlichen Öffentlichkeit zukommen zu lassen, war durchaus skandalös. Sie zeigten im Grunde nichts Neues auf, sondern belegten hauptsächlich faktisch die Vermutung über grausame oder verächtliche common practice. Im Anschluss daran fand sich Assange unter massiver Kritik – Kritik, die beinahe ausschließlich verschiedenen Ebenen der Verleumdung entsprach: es klebe Blut an seinen Händen, Komplizenschaft mit Russland, ein Feind Amerikas, ein Verschwörungstheoretiker, Paranoiker und zuletzt die Herabwürdigung, mit seiner mangelnden Hygiene und unerträglichem Lärm für politisches Asyl nicht mehr tragbar zu sein. Der Schutz vor politischer Verfolgung wog plötzlich, unter den Bedingungen gestiegenen Drucks seitens der USA, minder schwer als die Hygieneanforderungen an den Asylberechtigten und dessen Katze. Zwar erschien Assange zuweilen sehr wohl als ein „Player“, wenn er etwa die berüchtigten Hilary-Clinton-Emails unmittelbar nach den sexistischen Äußerungen Donald Trumps, ihres damaligen Konkurrenten im Präsidentschaftswahlkampf erscheinen ließ. Dies mag mehr als journalistischer Effekt gewesen sein, eher eine direkte politische Einflussnahme. Ob sich Herrschaft aber ausgerechnet vor der punktgenau veröffentlichen Peinlichkeit schützen darf, derer sie sich eben schuldig gemacht hat, bleibt in Zeiten der Diskussion des „Ibiza-Videos“ allerdings eine offene und brennende Frage.
Entscheidend ist hierbei die Verbindung zwischen der öffentlichen Kritik am Herrschenden und dem Einsatz des eigenen Lebens als Risiko. Letztere verbürgt, so erneut Foucault, zu gewissem Grade die Aufrichtigkeit des Sprechenden und die Wahrheit dessen, was er aussagt. Auf der anderen Seite rührt die Gefahr daher, dass die Adressatin oder der Adressat der Kritik diese nicht als berechtigte Kritik, sondern als zu bestrafendes Vergehen ansehen kann. Die Enthüllungen von Wikileaks stellten unter anderem die USA vor die Entscheidung, sich entweder mit der Kritik an den Machenschaften ihrer Geheimdienste in einem demokratischen Diskurs auseinanderzusetzen, oder aber den Kritiker zu erniedrigen, zu verfolgen und sich damit dem Vorwurf illegitimer Machtausübung auszusetzen. Assange, das ist der Name der Problematisierung zeitgenössischer Staatsgewalt.
Der demokratische Skandalon
Wenn als zutreffend bezeichnet werden kann, dass die Form der Kritik mit Wikileaks die Frage nach der Demokratie selbst neu zu stellen erlaubt, dann muss sich dadurch auch eine neue Art der Macht und ihrer legitimen Ausübung durch die Herrschenden thematisieren lassen, eine Art der Macht, die in entscheidendem Maße die Erzeugung von und den Zugang zu Information im Datenkapitalismus betrifft.
Wie anhand vieler Arbeiten in den Sozialwissenschaften ersichtlich ist, wurde die Rolle der Kritik in öffentlichen Institutionen in den letzten Jahrzehnten marginalisiert, da sich alle Funktionen des Staates dem höchsten Wert der Sicherheit unterordnen mussten. Damit wurde die Kritik als Korrektiv zunehmend als Infragestellung der Legitimität der Institution selbst wahrgenommen. Zum Schutz der Sicherheitsanliegen sind die bevorzugten Verbündeten für eine Sicherheitsallianz in der Privatwirtschaft schnell gefunden – bspw. in den Datenoligarchen Google und Facebook. Diese verwoben sich aufs Innigste mit den militärischen Cyberspionageabteilungen und bilden seither die technologische Grundlage jener Überwachung, die sich der demokratischen Kontrolle durch die Bevölkerung entzieht. Der Staat wurde, ähnlich einem Smartphone, reine Benutzeroberfläche, deren Mechanismen für die „Benutzer*Innen“ undurchschaubar bleiben.
Es ist kein Zufall, dass Julian Assange bereits 2014 in seinem Buch die Absprachen zwischen US-Geheimdiensten und Google, auch die Gesetzgebung zur Überwachung betreffend, nachgewiesen hat. Wie er dort zeigte, war es bereits seit den warlogs ein vorrangiges Interesse der CEOs von Google, die Idee von Datentransparenz und freiem Zugang zu Informationen als eine sehr gefährliche zu brandmarken: die Daten seien besser durch verantwortliche Leader in Regierung und Privatwirtschaft zu verwalten. Mit einer solchen neu-totalitären Überwachungsidee bricht Wikileaks radikal.
Die Konsequenzen dieser demokratischen Geste fühlt Assange am eigenen Leib. Kenntlich wird die politische Sprengkraft dadurch, dass, so Foucault, die „Beziehung zwischen Denken und Realität“ neu problematisiert wird, dass die Frage des Wissens mit neuen Akzenten versehen als Frage der Macht verstanden wird. Foucault bezeichnete diese Geste der Problematisierung als die kritische Tradition im Westen.
In welche Schwierigkeiten die herrschende Form der Demokratie dabei gerät, wird zuletzt auch an den Problemen deutlich, Assange in den USA anzuklagen. Nach der initialen Erstfassung der Anklage wegen Verschwörung, die mit einer fadenscheinigen Konstruktion wenig Aussicht auf Erfolg bei der Durchsetzung eines Auslieferungsgesuchs gehabt und im Höchstfall „bloß“ eine 5-jährige Haftstrafe gezeitigt hätte, wurde am Ende noch nachgeschärft. Nunmehr ist die Anklageschrift um 17 Punkte ergänzt und firmiert unter der Anklage wegen Spionage. Das bringt aber erhebliche Probleme mit sich, ist schließlich jetzt das Strafmaß nach oben hin offen bis zur Todesstrafe. Auch wurde eine solche Anklage bisher noch nie auf die Veröffentlichung vertraulicher Dokumente angewandt. Während Verschwörung eine angenehme Lösung für die liberale Presse gewesen wäre, ist nun das journalistische Metier selbst gefährdet, da die Arbeit von Wikileaks sich immer als Journalismus verstand und somit die Anklage Assanges die großen Medienhäuser ebenso angreifbar mache. Die USA wollten sich diesem Vorwurf entziehen, indem sie unilateral entschieden, Wikileaks sei kein Journalismus. Entweder wird den USA somit eingeräumt, darüber entscheiden zu können, welche Tätigkeiten aktuellen Journalismus ausmachen, oder aber die Medien müssen erneut zur Unterstützung Assanges zurückkehren, um die Pressefreiheit zu verteidigen. Letzteres zeichnet sich seit einigen Tagen ab, in denen viele renommierte Medien nach Jahren der Abkehr nun Wikileaks erneut verteidigen.
All diese Entwicklungen beschreiben eine bizarre Situation: es wird momentan – im Land der Freiheit – der kritischen Tradition des Westens der Prozess gemacht. Der kritischen Öffentlichkeit bleibt die Entscheidung: stillschweigende Akzeptanz von Sicherheitspatronat und autoritärer Willkür oder der Einsatz für die Arbeit an der Freiheit im Zeitalter des Überwachungskapitalismus.